Dänische Minderheit

Wie SSW-Einzelkämpfer Stefan Seidler den Bundestag aufmischt

Wie SSW-Einzelkämpfer Stefan Seidler den Bundestag aufmischt

Wie Einzelkämpfer Stefan Seidler den Bundestag aufmischt

Henning Baethge/shz.de
Berlin
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Sitzt seit neun Monaten im Deutschen Bundestag: Stefan Seidler vom SSW. Foto: Kay Nietfeld/shz.de

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Er ist der erste Bundestagsabgeordnete des SSW seit 1953 – und hat die Erwartungen seiner Partei schon jetzt übertroffen. Wie macht Stefan Seidler das?

Geht das nicht langsam auf den Keks? Das hat der SSW-Bundestagsabgeordnete Stefan Seidler sich und ein paar Kollegen neulich bei einem Feierabend-Bier gefragt, nachdem er im Parlament zum wiederholten Mal über seine Dänen, Friesen oder schleswig-holsteinische Heimat gesprochen hatte. Die Antwort war unerwartet ermutigend, erzählt Seidler: „Ganz im Gegenteil, das ist doch genau Deine Aufgabe!“, bekam er zu hören.

Gut 55.000 Stimmen reichten locker für Seidler

Seidler ist in Berlin der einzige Abgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbands, kurz SSW – und der erste seit 1953. Die Partei der dänischen und friesischen Minderheit ist bei der Bundestagswahl von der Fünf-Prozent-Hürde befreit und braucht nur so viele Stimmen, wie für ein Mandat nötig sind. Nachdem sie sechs Jahrzehnte lang nicht angetreten war, ging sie das Wagnis letztes Jahr mal wieder ein – und erhielt prompt 55.578 Zweitstimmen. Das reichte locker für Seidler.

Seit gut neun Monaten sitzt der 42-jährige Flensburger daher nun im Bundestag und arbeitet im Innenausschuss mit. Zehn Reden hat er bisher im Plenum gehalten, stets eingeleitet mit einem lässigen „Moin, liebe Kolleginnen und Kollegen“. Und stets mit dem Ziel verbunden, die Interessen der Minderheiten und die Belange Norddeutschlands zu vertreten. Beides hat Seidler, so viel kann man schon jetzt sagen, durchaus erfolgreich geschafft.

So hat der Bundestag bei den jüngsten Haushaltsberatungen die jährlichen Zuschüsse für die Friesen und Dänen in Deutschland um je 50.000 Euro erhöht. Das klingt nach wenig, hilft den Minderheiten aber viel. Natürlich ist der Beschluss nicht nur Seidler zu verdanken – der Bundestag hat auch früher immer wieder ein offenes Ohr für die Minderheiten gehabt. Doch ist deren Sichtbarkeit dank Seidler deutlich gestiegen.

Erstmals gibt es einen Parlamentskreis Minderheiten

Erst recht, seit er vor zwei Wochen gemeinsam mit seiner grünen Kollegin Denise Loop erstmals in der Geschichte des Bundestags einen „Parlamentskreis Minderheiten“ gegründet hat. Schon jetzt sind zwei Dutzend Abgeordnete aus allen Fraktionen außer der AfD dabei, die sich besonders für die sprachlichen Minderheiten einsetzen wollen. Zu denen zählen neben den Dänen und Friesen auch die Sorben sowie Sinti und Roma.

„Wir haben für so viel Aufsehen für unsere Minderheiten und für unser Grenzland gesorgt, wie es schon lange nicht mehr der Fall war“, zieht Seidler ein selbstbewusstes Fazit unter sein erstes Dreivierteljahr im Bundestag. Dass ihn die „Bild“-Zeitung noch vor der ersten Sitzung zum „Dänen-König“ im Parlament erklärt hatte, war zwar völliger Quatsch, trug aber früh zu Seidlers Bekanntheit und Beliebtheit bei. Er hat gute Kontakte in fast allen Fraktionen – „bis nach oben hin“, sagt er verschmitzt.

Erhält der SSW bald mehr Rechte im Bundestag?

Darum hofft Seidler auch, dass er sich und seiner Minderheitenpartei SSW künftig zu mehr parlamentarischen Mitwirkungschancen verhelfen kann. Dazu gebe es Gespräche mit den anderen Fraktionen und dem Bundestagspräsidium. „Wir untersuchen, was es für Möglichkeiten gibt, den Minderheiten im Bundestag mehr Rechte zu verschaffen“, sagt Seidler. Bisher darf er zwar im Bundestag zu allen Themen reden, aber keine Anträge einbringen und keine Anfragen stellen.

Wenn er redet, hält Seidler oft die Fahne der Klimaschützer hoch. Während die Grünen angeführt von ihrem Vizekanzler Robert Habeck wegen der drohenden Gaskrise plötzlich alte Überzeugungen zurückstellen und die Laufzeit von Kohlekraftwerken verlängern und Flüssiggas-Terminals bauen wollen, vertritt Seidler die reine Lehre. „Hör mal zu, Robert, das kann nicht sein, dass ihr da eine 180-Grad-Wende macht“, hat er dem Wirtschaftsminister neulich gesagt.

Seidler wettert gegen Ölbohrungen im Watt

Besonders stört Seidler, dass jetzt womöglich im Wattenmeer länger Öl gefördert werden soll als bisher geplant. „Im Nationalpark Wattenmeer bohrt nur einer – und das ist der Wattwurm“, hat er empört getwittert.

Überhaupt beherrscht Seidler das Spiel mit den sozialen Netzwerken. Er ist auf so ziemlich allen Plattformen unterwegs. Dort veröffentlicht er nicht nur Fotos von sich und Bundeskanzler Olaf Scholz oder Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, sondern auch seine Parlamentsreden.

Dass die immer nur kurz sein dürfen, weil ihm als Einzelkämpfer des SSW nicht viel Zeit zusteht, wird dabei zum Vorteil: „Ich habe nur zwei, drei Minuten Redezeit – aber wenn ich die in den sozialen Medien veröffentliche, sehen die Leute sich das an. Bei den 10- oder 20-minütigen Reden klicken sie doch weg“, sagt Seidler.

Auch im SSW ist man sehr zufrieden mit Seidlers Arbeit. „Mit Stefan Seidler haben Schleswig-Holstein, die deutsch-dänische Grenzregion und die Minderheiten endlich eine starke Stimme in Berlin erhalten“, freut sich Parteichef Christian Dirschauer. Außerdem habe Seidler aufgedeckt, dass die Ampelkoalition sich nicht an die finanzielle Zusage der Vorgänger-Regierung zur Sanierung des ölverseuchten Wikingecks an der Schlei in Schleswig halten wollte. Nun tut sie es doch.

Auch am Wahlerfolg in Kiel hat er seinen Anteil

Nicht zuletzt am großen Erfolg bei der Landtagswahl dürfte Seidler seinen Anteil haben – der SSW erreichte mit 5,7 Prozent der Stimmen erstmals Fraktionsstärke. Zwar sagt Dirschauer, dass das Programm und die Kampagne sowie die bisherige Landtagsarbeit entscheidend gewesen seien. Doch er räumt auch ein: „Ergänzend hat sicherlich die große mediale Aufmerksamkeit während und nach der Bundestagswahl einen positiven Effekt gehabt.“

Dass der SSW 60 Jahre lang nicht an Bundestagswahlen teilnahm, weil die Parteimitglieder befürchteten, ein Einzelkämpfer könne ohnehin nichts ausrichten, sieht man inzwischen kritisch. „Ich bin mir ziemlich sicher“, sagt Dirschauer, „dass es heute höchstens noch eine Handvoll Mitglieder gibt, die die Teilnahme an der Bundestagswahl für einen Fehler halten.“

SSW-Landtagsfraktionschef Lars Harms ist bekehrt

Auch Landtagsfraktionschef Lars Harms tut das nicht mehr, obwohl er vor fünf Jahren noch anders dachte. Heute räumt er ein: „Für die Minderheitenpolitik, die Regionalpolitik und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Dänemark wäre es sicherlich gut gewesen, wenn der SSW schon früher in Berlin präsent gewesen wäre.“

Leicht ist es dort als Einzelkämpfer allerdings wirklich nicht, erlebt Seidler. „Ich schaffe nicht alles, was ich gern möchte, und kann nicht alle besuchen, die ich gern besuchen würde“, sagt er. Seine Familie sehe ihn im Moment viel zu selten. Und eine Wohnung in Berlin hat Seidler auch noch nicht gefunden. Nicht mal die Facebook-Gruppe „Dänen in Berlin“ konnte weiterhelfen. Daher zieht er noch von Hotel zu Hotel. Ab Freitag allerdings ist er erst mal länger in der Heimat: Dann ist parlamentarische Sommerpause.

Seidlers Bundestagsbüro ist besonders groß

Immerhin hat er inzwischen ein sehr großes Bundestagsbüro im Jakob-Kaiser-Haus erhalten, umgeben von FDP-Abgeordneten. „Mensch, das ist ja riesig“, würden Kollegen oft staunen. Dann antwortet Einzelkämpfer Seidler: „Klar, das ist ja auch unser Fraktionssitzungssaal.“

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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