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„Der lange Weg bis zur Anerkennung der Sinti und Roma in Deutschland: ‚In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt‘“

Der lange Weg bis zur Anerkennung der Sinti und Roma in Deutschland

Der lange Weg bis zur Anerkennung der Sinti und Roma

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Jan Diedrichsen skizziert in seiner Kolumne den langen Weg, den Sinti und Roma gehen mussten, ehe sie nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten als Minderheit anerkannt wurden.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Der Zentralrat der Sinti und Roma feiert in diesen Tagen sein 40-jähriges Bestehen. Kürzlich fand im Schleswig-Holsteinischen Landtag eine Diskussion über die Aufarbeitung der Geschichte der Sinti und Roma statt.

Dem Fraktionsvorsitzenden des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW), Lars Harms, kann man nur beipflichten: „Nur die wenigsten Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner kennen die Sinti-Kultur, wissen um die kulturellen und sprachlichen Schätze dieser Minderheit. Sie können, wenn es hochkommt, allenfalls Klischees benennen. Aber ein authentisches Bild abseits von Zuschreibungen von außen kennt kaum jemand. Erstaunlich, wie diese Ignoranz sich hält. Sinti leben schon seit über 600 Jahren in Schleswig-Holstein.“ Dass sich alle demokratischen Fraktionen des Landtages deutlich zu den Sinti und Roma bekennen, ist in dieser Form europaweit einmalig und verdient Respekt.

Die deutschen Sinti und Roma aus Schleswig-Holstein sind seit 2012 durch die Landesverfassung geschützt. Sie gehören fest verankert zum Minderheiten-Kosmos des nördlichsten Bundeslandes. Das war nicht immer der Fall, aber die Solidarität zwischen den Minderheiten ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, so auch die persönlichen Beziehungen. Dies gilt nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern bundesweit.

Der Weg hin zu dieser Normalität war lang, steinig und musste erkämpft werden. Die Bürgerrechtsbewegung zur Anerkennung der Sinti und Roma ist eng mit der Geschichte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) verknüpft.

Damit wären wir wieder beim 40. Jahrestag der Gründung des Zentralverbandes der deutschen Sinti und Roma angelangt: Als erste und einzig Organisation setzte sich die GfbV bereits in den 1970er Jahren für die Minderheit ein. Aus dieser Bürgerrechtsbewegung ging schließlich der Zentralrat hervor.

Die Zeiten waren ganz andere: Zum Schrecken der Betroffenen waren nach 1945 Beamte weiter im Dienst, die vorher im Reichssicherheitshauptamt die Deportation von Sinti und Roma organisiert hatten. Bis in die 70er Jahre verweigerten Behörden Sinti und Roma aus Ostpreußen, Hinterpommern oder Schlesien den deutschen Pass, selbst wenn sie ehemalige Insassen von Konzentrations- und Arbeitslagern waren. Sie erhielten sogenannte „Fremdenpässe“, in denen Berufe angegeben werden mussten. Meist stand an jener Stelle „Landfahrer“ oder „Musiker“. Die GfbV kämpfte für die Wiedereinbürgerung dieser Sinti und Roma. Mit Erfolg.

1979 gab Tilman Zülch in der Reihe politischer Taschenbücher „rororo aktuell“ eine Dokumentation zur Situation der Sinti und Roma in Deutschland und Europa heraus. Der Band mit dem Titel: „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“, machte das Ausmaß des Völkermordes an bis zu 500.000 Angehörigen dieser Minderheiten bekannt. Bis dahin wurden die Verbrechen an den Sinti und Roma zumeist totgeschwiegen.

In seinem Vorwort schrieb der Philosoph Ernst Tugendhat: „Die Zigeuner werden noch heute als Untermenschen zwar nicht offen bezeichnet, aber empfunden und behandelt.“

Gemeinsam mit Romani Rose, der schon damals für die Rechte seiner Volksgruppe kämpfte, organisierte die GfbV ebenfalls 1979 einen Gedenkmarsch mit anschließender Kundgebung im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Rund 2.000 Menschen nahmen daran teil.

Für diese Aktion konnten wichtige Unterstützer gewonnen werden, deren Stimme in Politik und Gesellschaft unüberhörbar war: der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, und die Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil. Sie, eine Überlebende aus Bergen-Belsen erklärte: „Wir haben nicht immer genügend Solidarität gefühlt, diese Solidarität des gemeinsamen Unglücks. … Wir waren zusammen unter den Sterbenden, wir sind heute hier zusammen als Überlebende.“ Das Ringen für die Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer der Nationalsozialisten bezeichnete sie als fundamentalen Kampf für die Menschenrechte.

Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundespräsident Karl Carstens erkannten nach massivem öffentlichen Drängen Anfang der 80er Jahre erstmals den Völkermord an den Sinti und Roma an und entschuldigten sich öffentlich. In Berlin erinnert seit 2012 ein Mahnmal an die Opfer.

Auch etwa 400 Sinti und Roma aus Schleswig-Holstein kehrten aus den Lagern der Nazis nicht zurück. Heute leben in Deutschland rund 60.000 deutsche Sinti und 10.000 Roma, in Schleswig-Holstein Schätzungen zufolge 6.000, vor allem in Kiel und Lübeck sowie im Raum Flensburg und im Hamburger Umland.

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