Lockdown und Homeschooling

Wie Hauke mit einer Behinderung die Pandemie erlebt

Wie Hauke mit einer Behinderung die Pandemie erlebt

Wie Hauke mit einer Behinderung die Pandemie erlebt

Marle Liebelt/shz.de
Schleswig
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Hauke ist oft draußen. Am liebsten mit seinem Hund Bobby. Foto: Privat

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Der 17-Jährige lebt mit dem Fragilen-X-Syndrom. Der Lockdown stellen ihn und seine Familie vor große Herausforderungen.

„Hauke, magst du einmal kommen?“, ruft Bianca Butschkat ihrem Sohn entgegen. „Frau Liebelt ist am Telefon und möchte dich etwas fragen.“ Ich möchte wissen, wie es ihm geht und wie er die Pandemie erlebt. „Nein“, ruft Hauke. „Ich will nicht.“ Ich bin froh, dass seine Mutter ihm gut zuredet und er dann doch ans Telefon kommt.

„Hallo?“, fragt Hauke. Schon bei der Begrüßung höre ich an Haukes Aussprache, dass er eine Sprachbehinderung hat. Es stört aber nicht und ich verstehe ihn gut. Hauke ist 17 Jahre alt und lebt mit dem Fragilen-X-Syndrom. Seine Mutter hat mir vorab von seiner verzögerten Sprachentwicklung erzählt. Außerdem hat Hauke leichte autistische Züge und starke Verlustängste.

Hauke ist isoliert

Es ist Pandemie und zum Zeitpunkt unseres Gespräches sind die Schulen im Kreis geschlossen. In die Notbetreuung seiner Schule, der Peter-Härtling-Schule, geht er nicht. Außer seinen Eltern, Bobby und seinen Brüdern Christian (22) und Thore (20), der ebenfalls eine Behinderung hat und in den Werkstätten arbeitet, sieht Thore niemanden.

„Wie geht es dir?“, frage ich ihn am Telefon. „Gut“ antwortet er. Wir kommen ins Gespräch und ich spreche den Lockdown an. Frage, womit er gern seine Zeit verbringt. „Am Rechner.“ Ob er gern Computerspiele spielt, will ich wissen. „Nein, Videos. Bei Youtube.“ – Da haben wir etwas gemeinsam. Zum Glück kann man das im Lockdown weiterhin tun!

Außerdem ist Hauke gern draußen, am liebsten mit seinem Hund Bobby. Als ich nach der Schule frage, werden seine Antworten leiser. Ob er sie vermisst? „Ja.“ Was am meisten? „Meine Freunde.“ Maurice, Mathis und Mario sind seine besten Freunde. Mario ist der Lehrer. Hin und wieder hat er sie in einer Videokonferenz gesehen, aber sie fehlen ihm trotzdem sehr. Hauke hat nächsten Monat Geburtstag und wird 18. Eigentlich wollte er eine Party mit seinen Freunden feiern, wie er mir erzählt. „Und die muss ausfallen?“, frage ich geknickt. „Ja.“ Hauke wird still. „Möchtest du in dein Zimmer gehen, mein Schatz?“, fragt seine Mutter liebevoll. Er geht. Meine Fragen haben ihn sehr traurig gemacht.

Die Strukturen fehlen

„Die ganze Situation nimmt ihn sehr mit“, erklärt Bianca Butschkat mir. Er sei sehr auf feste Strukturen angewiesen, die durch den Lockdown und die Schulschließungen umgekrempelt wurden. Dass er momentan kaum soziale Kontakte hat, verkrafte er nur schwer.

„Hauke versteht die Situation, und dass es eine Pandemie gibt.“ Es treffe ihn jedoch sehr, wenn es Hoffnung gibt und diese dann enttäuscht wird.

Homeschooling mit Behinderung läuft anders

Eigentlich sollte die Schule schon im Februar wieder losgegangen sein, darauf habe er sich sehr gefreut. Und dann doch nicht. Es falle ihm schwer, das zu begreifen und damit umzugehen – auch wegen seiner starken Verlustängste. Wie die meisten Eltern, deren Kind statt in der Schule während des Lockdowns zuhause bleiben muss, sind auch Haukes Eltern mehr gefordert. Nur dass Hauke auch mit 17 Jahren auf viel Betreuung angewiesen ist.

Und das Homeschooling läuft für Menschen mit Behinderung nicht so, dass die ganze Klasse Aufgaben bekommt und diese abarbeiten muss.

Die Schüler haben alle sehr unterschiedliche Voraussetzungen und leben mit sehr verschiedenen Behinderungen.

Bianca Butschkat

Hauke kann beispielsweise nicht rechnen. „Zahlen sagen ihm einfach nichts.“ Anderen Schülern liege Rechnen hingegen sehr. „So hat jeder seine eigenen Stärken und Schwächen, die teils einfach sehr stark ausgeprägt sind.“

Keine Berufsvorbereitung

Eine sehr große Belastung sei derzeit jedoch die Berufsvorbereitung, erklärt Bianca Butschkat. Hauke ist in der Campus-Klasse – einer ausgelagerten Klasse der Peter-Härtling-Schule, die im Berufsbildungszentrum (BBZ) Handwerk in der Praxis lernen. Diese fehlende Praxis macht sich besonders bemerkbar, weil die im Homeschooling nicht ersetzt werden kann. Apropos Praxis: „Eigentlich sollte Hauke ein Praktikum machen“, doch das wurde wegen der Pandemie abgesagt.

Das Praktikum kann im Homeschooling nicht ersetzt werden, ist aber sehr wichtig.

Bianca Butschkat

Für behinderte Menschen führt der Weg nach der Schule oft in die Werkstätten. „Aber viele schaffen es auch über die Ambulante Berufliche Bildung auf den ersten Arbeitsmarkt.“ Nur ohne Praktika, sei es schwer herauszufinden, wo Hauke klarkommt und vor allem was ihm auch gefällt. „Das alles fällt jetzt weg.“

Eine Frage der Organisation

Bianca und ihr Mann arbeiten beide und haben ihre Zeiten so organisiert, dass Bianca losfährt, wenn ihr Mann von der Arbeit nach Hause kommt. Viel Zeit für sie als Paar bleibt da nicht. „Normalerweise kommt auch einen Tag die Woche jemand, die etwas mit Hauke unternimmt.“ Nur das fehle jetzt auch. Was die Familie sehr entlastet, ist die Flexibilität ihrer Schule. Die Schüler bekommen eigene Materialkisten zusammengestellt, die auf ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten abgestimmt sind.

Und wenn es mal nicht geht, dann geht es halt nicht.

Bianca Butschkat

Dafür habe die Schule viel Verständnis und das nehme viel Druck von den Schultern der Eltern. „Und wenn es zuhause wirklich alles mal zu viel wird, gibt es immer die Möglichkeit, doch die Notbetreuung in Anspruch zu nehmen.“ Für manche Schüler ist sie jedoch wirklich eine Notlösung, schließlich gehören viele von ihnen zur Hochrisikogruppe.

Hauke darf das Schuljahr wiederholen

Immerhin eine erfreuliche Nachricht erreichte Familie Butschkat vor wenigen Tagen: Bianca Butschkat hat mit einer anderen Mutter an der Schule ein Schreiben an das Bildungsministerium auf den Weg gebracht. Die Mühe hat sich gelohnt:

Wir können jetzt einen Antrag stellen, das Schuljahr 2020/2021 zu wiederholen. Normalerweise ist am Förderzentrum mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung mit 18 Schluss.

Bianca Butschkat

Und wenn die Schule bald wieder losgehen kann und die Ausbreitung des Virus eingedämmt wird, kehrt endlich wieder mehr Struktur und Normalität in Haukes Leben ein. Und seine Geburtstagsfeier wird nachgeholt – so viel ist sicher. 

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