Medikamentenversuche

„Ethische Regelwerke missachtet“

„Ethische Regelwerke missachtet“

„Ethische Regelwerke missachtet“

Frank Jung/shz.de
Kiel
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Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

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Der Abschlussbericht über Medikamentenversuche in der Psychiatrie in Schleswig-Holstein von 1994 bis 1975 liegt vor.

Sieben Krankenhäuser und Einrichtungen der Behindertenhilfe haben im Umgang mit Psychiatrie-Patienten von 1949 bis 1975 „auch damals geltende ethische Regelwerke missachtet“. Zu diesem Ergebnis kommen Prof. Cornelius Borck und Dr. Christof Beyer vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck in ihrem Abschlussbericht über ein Forschungsprojekt im Auftrag des Landtags. Sie konnten dabei mindestens 80 fragwürdige Medikamentenversuche nachweisen.

43 noch nicht zugelassene Erzeugnisse

Bei 43 davon wurden noch nicht zugelassene Mittel erprobt, bei 37 bereits marktreifen Präparaten die Anwendung genauer beobachtet. Es ging unter anderem um Anti-Depressiva und Anti-Epileptika. Wie viele Patienten einbezogen waren, lasse sich insgesamt nicht feststellen, sagte Beyer gestern bei der Präsentation vor dem Sozialausschuss des Landtags. Verorten konnten die Wissenschaftler die Experimente in den Landeskrankenhäusern Schleswig, Heiligenhafen und Neustadt, in den kirchlichen Betreuungseinrichtungen in Rickling und Kropp sowie dem Universitätsklinikum in Kiel und dem Städtischen Krankenhaus Lübeck-Ost.

Zahlenmäßig als bedeutendste Quelle erwiesen sich Aufzeichnungen aus den Einrichtungen selbst, darunter interne Berichte und Fachpublikationen. „Das zeigt, dass es keine Geheimniskrämerei gab; in Fachkreisen wurde über die Versuche diskutiert“, sagte Borck. Auch Korrespondenz zwischen Ärzten der Einrichtungen und Herstellern wie Merck, Ciba Geigy und Bayer wurde ausgewertet.

Ein Sedieren, also Ruhigstellen, wurde teils als positives Ziel einer Behandlung angesehen.

Christof Beyer, Institut für Medizingeschichte Universität Lübeck

Zum Vorwurf machen die Lübecker den Beteiligten, „dass es nirgends eine Dokumentation über eine Aufklärung der Patienten und ihre Einwilligung gibt“. Deshalb gehen die Forscher davon aus, dass beides nicht vorgekommen ist. Ethische Richtlinien dazu habe es aber auch schon gegeben, bevor 1976 das Arzneimittelgesetz eine Pflicht eingeführt habe. Demgegenüber habe durchaus ein Bewusstsein für ein Zustimmungserfordernis bei anderen Behandlungen und Untersuchungen existiert. Als „besonders problematisch“ geißeln die Wissenschaftler, „dass ein Sedieren, also Ruhigstellen teils als positives Ziel einer Behandlung angesehen wurde“. Insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatrie empfinden Beyer und Borck das als unangebracht.

Das Ruhigstellen sollte auch Personalmangel auffangen

Teilweise sei das auch erfolgt, um mangelhafte Personalausstattung oder verschleppte bauliche Erweiterungen der Kliniken und Heime zu kompensieren.

„Es hat an moralischen Maßstäben gefehlt“ resümierte Sozialausschussvorsitzender Werner Kalinka (CDU). „Man hat die betroffenen Menschen nicht als Menschen behandelt“, sagte sein SPD-Kollege Wolfgang Baasch. Sozialminister Heiner Garg (FDP) wertet den Abschlussbericht „als weiteren erschütternden Beleg für großes Unrecht, das Betroffene erfahren haben“. Er rief alle Beteiligten oder deren Nachfolger dazu auf, Verantwortung zu übernehmen, um Opfer finanziell zu unterstützen.

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