Leitartikel

„S-V-Gradmesser“

S-V-Gradmesser

S-V-Gradmesser

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

War die S-V-Regierung 1978/1979 ein „Teufelswerk“, und ist eine Wiederholung nach 40 Jahren möglich und überhaupt wünschenswert? Der frühere Chefredakteur Siegfried Matlok zieht Vergleiche zwischen der damaligen und heutigen Zeit, analysiert gewisse Parallelen und Risiken. Sein Ergebnis: Der Unterschied beträgt zurzeit 1 Grad!

Manches – aber nicht alles – spricht in diesen Tagen für die Bildung einer S-V-Regierung unter Führung der Sozialdemokratin Mette Frederiksen. Die Spekulationen blühen, und immer wieder taucht wie ein Gespenst – ja, für einige sogar wie ein Albtraum – die S-V-Regierung vor 40 Jahren auf, die zwischen 1978/1979 unter der Leitung des Sozialdemokraten Anker Jørgensen nur knapp 14 Monate zusammenhielt. Vielleicht ratsam, einen Vergleich zu versuchen, also zu prüfen, ob es eventuell Parallelen zwischen damals und heute gibt. Ist ein solcher Vergleich – positiv wie negativ – überhaupt möglich, wenn man bedenkt, dass die kommende dänische Regierung vor den größten Herausforderungen seit 1945 steht? Innenpolitisch und außenpolitisch. Sie muss den Dreikampf in den schwierigen Disziplinen Pandemie, Inflation und Kriegsgefahr gleichzeitig meistern, hat also eine ganz andere, leider viel gefährlichere Ausgangsposition.

  1. Der Grund für das S-V-Kabinett im August 1978 war die ernste wirtschaftliche Lage des Landes, ausgelöst durch die von den Araber-Scheichs verursachte Ölkrise 1973 und durch ein dramatisch wachsendes Defizit in der Auslandsverschuldung. In Erinnerung sind noch heute die Äußerungen des sozialdemokratischen Finanzministers Knud Heinesen: „Dänemark fährt in den Abgrund – aber 1. Klasse.“ Dänemark galt damals als „Europas kranker Mann“, ja die Verhältnisse wurden sogar mit Italien verglichen. 2022 steht Dänemark zwar vor notwendigen ökonomisch-sozialen Reformen, hat allerdings – wie die Corona-Krise bewies – den Vorteil, inzwischen über eine gesunde staatsfinanzielle Grundlage zur Aufrechterhaltung des Wohlfahrtstaates zu verfügen. Noch!

  2. Die parlamentarische Situation war 1977 für den sozialdemokratischen Staatsminister Anker Jørgensen kompliziert mit Neuwahlen sowohl 1973 als auch 1975. Festgefahren seit den berühmten Umbruchswahlen 1973, die aber in gewisser Weise schon mit der heutigen Lage vergleichbar sind. 1977 waren elf Parteien im Folketing vertreten – seit dem 1. November sind es sogar zwölf! Dass sich einiges im Wählervolk gewandelt hat, zeigt der Stimmenanteil von Sozialdemokratie und Venstre: 1977 erhielten die beiden Parteien zusammen 49 Prozent aller Stimmen – 2022 waren es nur noch 40,8 Prozent. Dabei hat sich die nicht zu unterschätzende Gewichtung ebenfalls deutlich verändert. 1977 war die Sozialdemokratie dreimal größer als Venstre, heute ist sie aber immerhin noch doppelt so stark wie Venstre, wobei bemerkenswert ist, dass Venstre 1977 – wie 2022 – einen dramatischen Rückgang zu verzeichnen hatte, nur noch auf 12 Prozent kam gegenüber 13,3 nach der diesjährigen Wahl. Mit anderen Worten: Wie 1977 gibt es auch heute eine stark geschwächte liberale Partei, von Augenhöhe keine Spur!

  3. Die S-V-Regierung war eine Minderheits-Regierung, hatte aber eine mandatsmäßige Stärke, die mit 86 Mandaten praktisch an die Mehrheit von 90 Sitzen heranreichte. Eine neue S-V-Regierung käme zusammen nur auf 73 Mandate. Die S-V-Regierung von Anker Jørgensen war auch auf Unterstützung von außerhalb angewiesen. Dazu zählte etwa der deutsch-nordschleswigsche Folketingsabgeordnete Jes Schmidt als Mitglied in der CD-Fraktion, der übrigens bei der Wahl 1977 von allen nordschleswigschen Abgeordneten imponierend das drittbeste persönliche Stimmenergebnis erzielte!

  4. Unterschied zwischen Anker Jørgensen und Mette Frederiksen: Anker Jørgensen holte 1977 immerhin 37,0 Prozent der Stimmen – Mette Frederiksen im Vergleich dazu nur mäßige 27,5 Prozent. Beide Staatsminister waren/sind in den eigenen Reihen beliebt, ja Anker Jørgensen war wohl einer der beliebtesten sozialdemokratischen Parteiführer. Seine ökonomische Politik – leider auch mit einer zweistelligen Inflationsrate – war sehr umstritten, und deshalb hatte er bei seinem S-V-Experiment auch nicht die Stärke, die Mette Frederiksen jetzt machtvoll verkörpert. Trotz mancher Skandale – man denke nur an die Nerz-Opfer – hat sie die Wahl 2022 gewonnen und steht sozusagen auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Ob mit oder ohne V: Ohne sie läuft gar nichts! Sie hat vorläufig die bürgerlich-liberale Opposition schachmatt gesetzt, sie bestimmt – fast ganz allein – den Kurs in der Sozialdemokratie, obwohl er bestimmt nicht in allen Kreisen Gefallen findet. Sollte es zu einer Regierung über die Mitte hinweg kommen, werden sich die linken Kritiker dann auch in ihrer Partei wieder hervorwagen.

  5. Der ganz große Unterschied zu den Regierungszeiten von Jørgensen und Frederiksen besteht in der Rolle der starken Gewerkschaften. 1977 war der damalige LO-Chef Thomas Nielsen ein harter Widersacher von Anker Jørgensen, dem er oft große Steine in den Weg legte. Seine Forderung des Mitbestimmungs-Modells „ØD“ (Ökonomische Demokratie) wurde durch die Bildung der S-V-Regierung zu Grabe getragen; das hat Thomas Nielsen Anker Jørgensen nie verziehen; er war ein ewiger Unruheherd. Heute ist ein solcher Streit zwischen den Gewerkschaften und der Regierung nicht zu erkennen. Wenn Dänemark sich 2022 auch im internationalen Vergleich wirtschaftlich so stark präsentieren kann, dann ist es auch ganz wesentlich der Vernunft der Gewerkschaften in Verbindung mit dem dänischen Arbeitsmarkt-Modell zu verdanken.

  6. Woran scheiterte die S-V-Regierung im Oktober 1979? An einem Mangel an Vertrauen! Innerhalb eines Jahres brachte das S-V-Kabinett immerhin 142 Gesetzesvorschläge – auch wichtige wie „Efterløn“ – durch das Parlament, aber die Regierung zog nie an einem Strang. Im Gegenteil, es herrschte Misstrauen von Anfang an, auch weil die 20 Punkte im Regierungsprogramm ganz bewusst nicht klar genug formuliert worden waren. Deshalb gab es damals die seltsame Konstruktion von „Schattenministern“, die jeweils das von der anderen Partei besetzte Ministerressort überwachen sollten. Insgesamt gab es 21 Ministerien – 14 für die Sozialdemokraten und 7 für Venstre –, doch die Schattenminister waren in Wirklichkeit reine Kontrollminister, eine politisch tödliche Mixtur, die so von Beginn an den Keim des Scheiterns in sich trug. Natürlich ein gefundenes Fressen für die damalige Opposition, und jeder in diesem Lande weiß, dass sich Mette Frederiksen und Venstre-Vorsitzender Jakob Ellemann-Jensen nicht nur im Wahlkampf wie Hund und Katze begegnet sind. Ist zwischen diesen beiden trotz – wie es zuletzt hieß – „konstruktiver Gespräche“ eine Vertrauensbasis möglich? Für Ellemann steht persönlich dabei mehr auf dem Spiel als für Mette Frederiksen: Nimmt er die Rolle als „Kellner“ an, können die beiden sich auch in der zwischenmenschlichen Chemie überhaupt finden? Wenn dies auch nach außen hin nicht glaubwürdig erscheint, sollte man ungeachtet der Kabinettsposten auf jeden Fall keine S-V-Regierung bilden, weil sonst auch die dänische Demokratie Schaden erleiden könnte. Das Schlüsselwort heißt: Vertrauen!

Es gibt nicht wenige Kommentatoren, die das Scheitern von 1979 als ein schlechtes Omen für die jetzigen Regierungsverhandlungen betrachten. Kann man denn kein gutes Haar an der S-V-Regierung lassen, die damals vorübergehend sozusagen in Dänemark den Arbeiter-Bauern-Staat symbolisierte?

Sie hatte es auf jeden Fall etwas wärmer als heute!

1978/1979 senkte die S-V-Regierung von Anker Jørgensen im Zuge der Energie-Einsparungen im Lande die Temperaturen in den öffentlichen Gebäuden auf 20 Grad, bei Mette Frederiksen liegen die heutigen Temperaturen in den öffentlichen Gebäuden bei 19 Grad!

Also bitte warm anziehen!

Mehr lesen

Kommentar

Jens Kragh Iversen
Jens Kragh Iversen Sportredakteur
„Der unerwartete Triumph des Kollektivs“

Leserbrief

Meinung
Jan Køpke Christensen
„Faste mindre teams vil hjælpe, men der skal holdes øje med kommunerne“