Leitartikel

„Dänemarks Politikerinnen und Politiker sollten sich für eine Weile von Facebook und Twitter verabschieden“

Dänemarks Politik sollte sich für eine Weile von Facebook verabscheiden

Dänemarks Politik sollte Facebook-Pause machen

Apenrade/Aabenraa
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Soziale Medien sind ein Segen, meint Cornelius von Tiedemann. Gerade deshalb sollten wir darauf achten, wie wir sie nutzen – und welche wir nutzen. Der Politik schreibt er eine Vorbildrolle zu, der sie gerecht werden sollte.

Einfach mal Pause machen. Alle zusammen. Für ein halbes Jahr. Oder nur einen Monat. Eine Woche. Durchatmen. Lesen. Zuhören. Lernen. Arbeiten. Facebook, Instagram, Twitter und Tiktok ignorieren.

Könnten sich darauf alle im politischen Betrieb in Dänemark einigen, wäre viel gewonnen.

Warum?

Nicht, weil soziale Medien per se schlecht sind. Das sind sie nicht, im Gegenteil. Sondern, weil wir uns von ihnen völlig unnötig vor einen Wagen spannen lassen.

Wir nutzen die Möglichkeiten nicht, die uns die Idee der sozialen Medien bietet, uns konstruktiv und positiv sozial zu verhalten. Doch darum sollte es gehen. Es sollte darum gehen, das Leben leichter und sozialer zu machen. Gemeinschaft und Demokratie zu stärken, Wissen zu verbreiten.

Nachdem wir alle auf den SoMe-Zug aufgesprungen sind, in der Panik, ansonsten abgehängt zu werden, ist es jetzt an der Zeit, uns zu fragen, ob wir überhaupt im richtigen Abteil, im richtigen Wagen sitzen.

Wer den sich zweiteilenden Zug aus Kopenhagen nach Nordschleswig kennt, weiß, dass das eine geradezu ent-scheidende Frage ist. Wo geht die Reise eigentlich hin? Und wer bestimmt die Route?

Seit Elon Musk Twitter übernommen hat, haben viele Nutzerinnen und Nutzer dem sozialen Netzwerk den Rücken gekehrt. Foto: Jonathan Ernst/Reuters/Ritzau Scanpix

Wollen wir uns und unsere Interessen, Emotionen und Bedürfnisse, drastisch formuliert, weiterhin von superreichen Narzissten und gewinnorientierten Mega-Unternehmen benutzen und manipulieren lassen?

Oder wollen wir soziale Netze haben, die unsere Interessen als mündige Bürgerinnen und Bürger in den Vordergrund stellen und uns als Individuen und als demokratische Gemeinschaft respektieren und helfen, uns zur gesellschaftlichen Teilhabe zu ertüchtigen?

Die meisten werden sagen: Mir egal, Hauptsache ich werde gut unterhalten. Und das ist auch in Ordnung.

Doch das Schicksal des Kurznachrichtendienstes Twitter zeigt uns, wie gefährlich es ist, sich bei zentraler, ja, fast schon systemrelevanter virtueller Infrastruktur, die unsere privatesten Daten und Informationen verwaltet (und zum eigenen Vorteil nutzt), auf den guten Willen von Unternehmen oder Einzelpersonen zu verlassen.

Wir können sie nicht kontrollieren. Nur widerwillig erklären sie sich uns. Aber sie wollen gerne alles über jeden von uns wissen und verwerten. 

Zugleich werden immer neue Methoden entwickelt, um uns süchtig, ja, von ihnen abhängig zu machen.

Wer meint, dass die Politikerinnen und Politiker auf Christiansborg alles dafür tun würden, die Bürgerinnen und Bürger, die sie vertreten, davor zu schützen, derart benutzt zu werden, der irrt.

Im Gegenteil. Die meisten Volksvertetenden nutzen die kommerziellen sozialen Medien fröhlich selbst, um Machterwerb und Machterhalt zu gestalten.

Sie nutzen sie auch, um die vierte Gewalt, die nach ethischen Richtlinien arbeitende kritische Presse zu umgehen (und somit zu schwächen). Kommentare werden in den „sozialen Medien“ abgesetzt, Regierende sind für kritisch und geschult nachfragende Journalistinnen und Journalisten oft nicht mehr erreichbar.

Um Aufmerksamkeit zu bekommen, werden die Inhalte der Politikerinnen und Politiker möglichst zugespitzt. Wer provoziert, profitiert. Dass sie damit das demokratische System zersetzen, dem sie dienen, nehmen viele von ihnen (es gibt Ausnahmen) in Kauf.

Die neue Ministerin für Gleichstellung und Digitalisierung, Marie Bjerre (Venstre): Digitalisieren – und Räsonieren? Foto: Jens Dresling/Ritzau Scanpix

Und was, wenn jetzt alle mal Pause machen? Was ändert sich dann?

Wer weiß. Vielleicht überdenken einige ihre Einstellung zu den kommerziellen sozialen Medien. Vielleicht wechseln sie, wie gar nicht wenige es in jüngster Zeit gemacht haben, zu nicht kommerziellen, dezentralen Netzwerken wie Mastodon. Wo nicht manipulative Algorithmen, sondern jede und jeder selbst entscheidet, was wichtig ist. Und wo der Tonfall deutlich entspannter und konstruktiver ist.

Vielleicht überlegen einige, es zu einem politischen Thema zu machen, wie und wo wir alle eigentlich unsere Zeit verbringen und wem wir damit wie dienen. Wie nutzen wir die unheimlichen Potenziale der digitalen sozialen Netzwerke, ohne uns von Magnaten und Konzernen vor deren Karren spannen zu lassen?

Margrethe Vestager
Margrethe Vestager setzt sich als zuständige EU-Kommissarin seit Jahren gegen die Vormachtstellung einiger weniger Konzerne auch im Bereich der sozialen Medien ein (Archivfoto). Foto: Cornelius von Tiedemann

Wie gestalten wir die digitale Öffentlichkeit so, dass sie weniger Konflikt und mehr lösungsorientiert ist – und uns trotzdem (oder gerade deshalb?) unterhält, bewegt und anregt?

Dänemark sitzt im digitalen Zug ganz vorn. Die technischen Grundlagen sind geschaffen.

Es ist an der Zeit, anzuhalten und zu überlegen, wo die Reise jetzt hingeht. Die EU-Kommissarin für Digitales, die Dänin Margrethe Vestager, ist sicherlich an Gesprächen in Sachen Weichenstellung mehr als interessiert.

 

Mehr lesen

Leitartikel

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
„Europäischer Erdrutsch“

VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
„Sudan am Rande einer Hungersnot“