Diese Woche in Kopenhagen

„Wenn das Alphabet nicht mehr ausreicht“

Wenn das Alphabet nicht mehr ausreicht

Wenn das Alphabet nicht mehr ausreicht

Kopenhagen
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Kommunisten, Anarchisten, Verschwörungstheoretiker und Tequila-Fans. Walter Turnowsky hat sich unter den kleineren Wahllisten umgesehen und ist dabei auf allerlei Interessantes gestoßen. Und zum Schluss gibt es als Belohnung noch die schöne Geschichte von einer ganz besonderen Uroma.

Wenn Kommunal- und Regionswahlen anstehen, bereitet es mir Vergnügen, die kleineren, kuriosen oder netten Geschichten am Rande zu beobachten.

Was das Kuriose anbelangt, sind Kopenhagen und die Region Hauptstadt immer ein ergiebiges Pflaster. Hier treten so viele Listen an, dass nicht alle einen Buchstaben abbekommen. Das Alphabet ist schlichtweg zu kurz für die Kopenhagener Politik.

Diesmal war es in der Kommune jedoch nur eine Liste, Det Demokratiske Parti (Interessanter Name übrigens, wenn man sich daran erinnert, dass es auch einmal eine Republik gab, die sich demokratisch nannte), die keinen Buchstaben abbekommen hat. Das waren schon mal mehr; die politische Vielfalt in Kopenhagen scheint rückläufig zu sein.

Wer sich darüber Sorgen macht, kann bei der Region Hauptstadt Trost suchen. Hier mussten ganze vier Listen ohne Buchstaben antreten: Bydelens Stemmer, Psykiatrisk fokus, Kommunistisk Parti und Christianialisten.

Auswahl für Kommunisten und Christiania-Fans

Die beiden letzteren traten auch in der Kommune an (Buchstaben R und E), wobei man Kommunistisk Parti unter keinen Umständen mit Kommunisterne (Buchstabe N) verwechseln sollte. Die genauen ideologischen Unterschiede, das muss ich zu meiner Schande gestehen, habe ich nicht recherchiert.

Christianialisten ist nur eine von drei Listen, die ihre Wurzeln in der selbst ernannten Freistadt haben. Da wäre auch noch Hampepartiet (J) und Kærlighedspartiet/Regnbuefolket/Befri Christiania (Y). Letztere hat den Politveteranen Allan Anarchos als Spitzenkandidaten. In der Region tritt er interessanterweise für eine andere Liste an, Odins Vikingehær (W) – ein wahrer Anarchist eben. Vielleicht sind deshalb Kærlighedspartiet in der Region 702 Stimmen im Vergleich zu 2017 verloren gegangen.

Anarchos ist seinen Idealen über Jahrzehnte treu geblieben: Er hat dafür gesorgt, nie gewählt und damit in die Unbilden des Parlamentarismus verstrickt zu werden.

Die Verschwörung mit den fehlenden Kästchen

Nach einem anderen der Kopenhagener Kleinveteranen suchte man diesmal vergeblich auf dem Stimmzettel: Tom Gillesberg von Schiller Institutes Venner. Das Schiller-Institut (auch in Deutschland aktiv) ist Teil der internationalen Bewegung des 2019 verstorbenen amerikanischen Politikers Lyndon LaRouche. LaRouche war überzeugt, dass AIDS, Terrorismus und Kriege einer Verschwörung der Bank of England, des Clubs of Rome und einer Reihe von Einzelpersonen geschuldet sind.

Vielleicht haben Gillesberg und Co. ja deshalb auf eine Kandidatur verzichtet, weil es diesmal auf dem verschwörungtheoretischen Flügel der dänischen Politik Konkurrenz gab, und zwar von Frihedspartiet (T in der Kommune, Æ in der Region). Spitzenkandidat Per Brændegaard hat entlarvt, dass der Virologe Allan Randrup Thomsen von Bill Gates – der bekanntlich Impfungen mit düsteren Motiven vorantreibt – finanziert wird.

Die Freiheitspartei bekam am Wahltag ihre „five minutes of fame“, als sie darüber klagte, dass auf den Stimmzetteln in Kopenhagen hinter den Namen von vier ihrer Kandidaten das Kästchen fehlte. Eine Neuwahl werden sie durch ihre Klage nicht erreichen; ein Trost kann sein, dass sie sich dadurch in ihrem Weltbild bestätigt fühlen werden.

Und nun ein Margarita

Ein Trost für mich ist, dass sie mit ihren 0,4 Prozent (0,3 Prozent in der Region) von den drei Listen aus Christiania übertroffen werden – zumindest, wenn man deren Stimmen zusammenzählt. Also quasi: Statt Verschwörung lieber einen Joint rauchen und mit viel Liebe für den Erhalt von Christiania eintreten. 

Ebenfalls beruhigend ist, dass Valgfest med mexicansk tema (E) in der Region immerhin auf fast die Hälfte der Stimmzahl der Frihedspartiet kommt. Das Schöne an dieser Liste: Das politische Programm ist bereits im Namen umfassend beschrieben. Für die Gelder, die sie als Parteienförderung erhält, veranstaltet sie das Fest.

Vielleicht weil sie dieses Versprechen in der vergangenen Legislaturperiode eingehalten hat, konnte sie sich von 0,1 auf 0,2 Prozent steigern. So stehen der Liste nun 6.593 Kronen pro Jahr für ihre Feste zur Verfügung. Sie hat übrigens deutlich mehr Stimmen erhalten als Rasmus Paludans rechtsextremer Stram Kurs (P).

Uroma Karen

Die schönste – und eigentlich nicht wirklich kuriose – Geschichte dieser Wahl habe ich im „Viborg Stifts Folkeblad“ entdeckt. Es geht um eine Erstwählerin. In den meisten Fällen sind diese 18 oder 19 Jahre alt. Doch diese Dame ist erst 71 Jahre später zu ihrer ersten Wahl gegangen. Zu ihrer Zeit sei Politik noch Männersache gewesen, und auch nach dem Tod ihres Mannes habe sie es dabei belassen, erzählte die 89-Jährige der Zeitung.

Der Anlass, weshalb Karen Marie Madsen, ihren Namen sollten wir schon erwähnen, nun doch zur Wahl gegangen ist, ist ihre Urenkelin Malikka, die an Autismus leidet. Die alte Dame machte sich Sorgen, dass man die Unterstützung für das Kind kürzen könnte. Es sei ganz allein Karens eigene Idee gewesen, zur Wahl zu gehen, versichert Malikkas Mutter, Maiken Marie Dyrvig, „Viborg Stifts Folkeblad“.

Und so hat die alte Dame ihren Rollator in die Wahlkabine geschoben, um ihr Kreuzchen bei einer Kandidatin oder einem Kandidaten zu machen, der ihrer Ansicht nach am meisten für Malikkas Spezialschule und die Volksschule im Allgemeinen tun möchte. Den Namen hatte sie sich sicherheitshalber vorher auf einem Zettel notiert.

Für mich steht fest: Solange es Menschen wie Uroma Karen gibt, ist mein Vertrauen in die Demokratie als die am wenigsten schlechte Staatsform intakt.

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