Afghanistan-Veteranen

„Gedanken, Gefühle und Erinnerungen überschwemmen mein System“

„Gedanken, Gefühle und Erinnerungen überschwemmen mein System“

„Gedanken, Gefühle, Erinnerungen überschwemmen mein Syste

Kopenhagen
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Taliban-Krieger vor übermalten Frauenbildern: Nachrichten aus Afghanistan lösen bei Veteranen starke Reaktionen aus. Foto: Wakil Kohsar/AFP/Ritzau Scanpix

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Der Veteran Michal Piotrowski fühlt sich in seinem Innersten von den Ereignissen in Afghanistan getroffen. Jetzt hilft er Kameraden und Angehörigen, die ähnlich wie er empfinden. Auch das Veteranenzentrum der Streitkräfte bietet Unterstützung an.

Michal Piotrowski hat eine 14 Jahre lange Laufbahn bei den Streitkräften gehabt. 2006 war er mit der ersten Gruppe dänischer Soldaten, ISAF1, in der afghanischen Helmand-Provinz im Einsatz.  Die Bilder und Nachrichten, die uns in diesen Tagen aus dem kriegsgeplagten Land erreichen, wecken in ihm starke Gefühle.

„Ich sitze in diesen Tagen mit einem Klumpen im Magen – Afghanistan brennt – viele Gedanken, Gefühle und Erinnerungen überschwemmen mein System“, schreibt er auf Facebook.

Im Gespräch mit dem „Nordschleswiger“ erklärt er seine Emotionen genauer.

„Wir kamen in ein Land, das in Ruinen lag, Kinder starben gleich nach der Geburt. Wir wollten, und hier denke ich, spreche ich nicht nur für mich, für die Bevölkerung einen besseren Alltag schaffen“, sagt der ehemalige Soldat, der auch Pio genannt wird.

Er und seine Kameraden sahen einen Sinn darin, Schulen, Hospitäler und Infrastruktur zu bauen.

„Jetzt habe ich das Gefühl, dass das alles in kürzester Zeit zerbröckelt. Ich weiß ja nur aus Medienberichten, wie die Lage derzeit ist, aber für mich ist es so, als ob alles sehr schnell wieder so wird wie damals, als wir ankamen. Es trifft mich im Innersten meiner Seele.“

Er bietet Hilfe an

Er ist nicht der Einzige, dem es in diesen Tagen so ergeht. Er weiß, dass viele Veteraninnen und Veteranen ähnlich wie er empfinden. Daher hat Piotrowski auch ein ganz besonderes Anliegen mit seinem Facebook-Post: Er bietet anderen seine Hilfe, ein Gespräch an.

„Man darf unter keinen Umständen mit diesen Gedanken alleine sitzen“, betont der Veteran.

Sein Angebot umfasst mehr als nur ein Gespräch unter Kameraden. Nach seiner militärischen Laufbahn hat er sich zum Psychotherapeuten ausgebildet. Jetzt bietet er Veteranen, Angehörigen und Hinterbliebenen seine Hilfe an – kostenfrei.

„Ich reiche ihnen meine Hand. Sie sollen wissen, dass es eine Nummer gibt, die sie anrufen können, denn ich weiß, was sich in ihnen rührt“, betont Piotrowski.

„Wichtig mit jemandem zu sprechen“

Das Veteranenzentrum der Streitkräfte in Ringsted (Veterancentret) ist die offizielle Anlaufstelle für sämtliche Soldatinnen und Soldaten, die an einem Auslandseinsatz beteiligt waren. Auch von dort lautet die Aufforderung, Veteranen und Angehörige sollen ihre Gedanken und Gefühle teilen.

„Sie sollten mit jemandem sprechen. Das können Angehörige oder auch andere ehemalige Soldaten sein“, sagt Anne Seehausen Hansen, Chefin der militärpsychologischen Abteilung des Zentrums.

Wer niemanden hat oder professionelle Hilfe sucht, kann auch rund um die Uhr die Hotline des Veteranenzentrums anrufen.

„Seit Montag haben sich sieben Afghanistan-Veteranen an uns gewandt (Stand Mittwoch). Zum Glück sind es bislang nicht mehr. Es zeigt, dass sich viele auf ein gutes Netzwerk verlassen können. Wir wissen, dass die Veteranen sich sehr gut gegenseitig unterstützen“, so Seehausen Hansen.

Die Frage nach dem Sinn

Ganz ähnlich denkt Ex-Soldat Piotrowski: „Eigentlich hoffe ich, dass niemand anruft, denn das würde zeigen, dass sie auf sich aufpassen und in ihrer Nähe jemanden haben, mit dem sie reden können.“

Seine Wirklichkeit sieht jedoch ein wenig anders aus. Nachdem er den Post veröffentlicht hat, haben sich bereits etliche Menschen an ihn gewandt. Aus Diskretionsgründen möchte er die genaue Anzahl nicht verraten, doch es seien deutlich mehr als zehn. Sein Beitrag ist fast 3.000-mal geteilt worden.

Die Militärpsychologin Seehausen Hansen erläutert, dass viele nun den Sinn ihrer Entsendung infrage stellen.

„Als sie aus Afghanistan zurückkehrten, haben sie eine Erzählung über ihren Einsatz aufgebaut. In vielen Fällen wird diese Erzählung durch die aktuellen Ereignisse infrage gestellt. Jetzt müssen sie ihrem Einsatz einen neuen Sinn verleihen“, erklärt sie.

Wir müssen jene, die nach Afghanistan geschickt wurden, auch wieder nach Hause holen.

Michal Piotrowski/Afghanistan-Veteran und Psychotherapeut

Gefragt, wie er mit diesem Problem umgeht, muss Piotrowski erst überlegen.

„Das ist eine gute Frage; ich weiß nicht, ob ich sie beantworten kann“, sagt er nach einer Denkpause.

„Vielleicht war der Sinn das kleine Kind, dem ich eine Flasche Wasser oder eine Kopfschmerztablette gab. Oder die Frau, die während wir dort waren, sich frei bewegen und eine Schule besuchen konnte. Doch was wird jetzt?“, fügt er nach weiteren Überlegungen hinzu.

Veteranen mit PTSD

Noch schwerer trifft diese Frage jene, die mit psychischen Folgen vom Kriegseinsatz zurückgekehrt sind. Laut dem Veteranenzentrum sind es ungefähr 10 Prozent der insgesamt ungefähr 11.400 Männer und Frauen, die für Dänemark in Afghanistan waren. Bei den Gruppen, die besonders harte Missionen erlebten, bis zu 14 Prozent.  

„Wer eine posttraumatische Stressreaktion (PTSD) gehabt hat, kann in der jetzigen Situation durchaus Rückschläge erleben“, so Seehausen Hansen.

Auch Piotrowski betont, dass insbesondere diese Veteranen nicht mit ihren Gedanken allein bleiben sollten.

„Ich habe auch Nachrichten von Menschen bekommen, die sagten: Hätte mein Verwandter doch rechtzeitig um Hilfe gebeten“, schildert er die Reaktion in Fällen, bei denen sich Veteranen das Leben genommen haben.

Einladung zum Kaffee

Daher fordert er auch alle, die jemanden kennen, der in Afghanistan war, dazu auf, jetzt besonders aufmerksam zu sein.

„Ganz gleich, ob die betreffende Person als Soldat, Polizist, Feuerwehrmann oder humanitär im Einsatz war, lade sie doch auf einen Kaffee ein. Sag ihm oder ihr, dass sie jederzeit anrufen können. Es ist eigentlich nicht so schwer, man muss nur zuhören können“, sagt der Psychotherapeut.

Die Tatsache, dass man weiß, dass es jemanden gibt, der oder die bereit ist, zu helfen sei entscheidend.

„Wir müssen jene, die nach Afghanistan geschickt wurden, auch wieder nach Hause holen“, sagt Piotrowski.

Die 24-Stunden-Hotline des Veteranenzentrums hat die Nummer 7281 9700. 

Psychotherapeut Michal Piotrowski kann unter der Nummer 2620 1573 oder über Facebook erreicht werden. 

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