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„Ukraine – Europa an einem Scheideweg“

Ukraine – Europa an einem Scheideweg

Ukraine – Europa an einem Scheideweg

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Das Verhalten Russlands macht deutlich, dass wir nicht mehr in einer Nachkriegszeit, sondern gefühlt eher in einer Vorkriegszeit leben, in der zugleich nicht klar ist, ob sich Europa dabei noch auf die USA als Friedensgarant verlassen kann, meint Jan Diedrichsen.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

An den Grenzen zur Ukraine stehen derzeit über 100.000 russische Soldaten. Die Situation ist äußerst angespannt. Ob die vom Kreml verlautbarte Meldung, dass man Truppen abziehen wolle, sich bewahrheitet, das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen.

Eines hat sich bereits fundamental geändert. Europa denkt gezwungenermaßen neu über die eigene Sicherheit nach. Man ist verunsichert wie wohl seit den 1990er Jahren nicht mehr, als die Kriege auf dem Balkan und das Massenmorden, der Genozid in Srebrenica, deutlich machten, wie dünn der zivilisatorische Firnis sein kann.

Ähnliche Gedanken tragen derzeit viele Menschen mit sich herum. Das mutmaßlich erratische Verhalten Russlands, das sich mit unserem westlichen Zugang schwer vereinbaren lässt, macht nervös. Es zeichnet sich ein Bruch ab; wir leben nicht mehr in einer Nachkriegszeit, sondern gefühlt eher in einer Vorkriegszeit. Verdrängung hilft da wenig. Die Sicherheitsprobleme bleiben. Die Nachkriegsordnung ist Vergangenheit, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur ist im Werden. Es geht um Macht, Einfluss und die zukünftige Gestaltung des Kontinents. Das sind die Beweggründe Putins. Er will diese Zukunft dominieren, und dafür hat er nur Soldaten, nur Gewalt als Mittel, zur Verfügung. Und er wird sie einsetzen, wenn er es für dienlich erachtet.

Dänemark hat in der europäischen Sicherheitspolitik schon häufig den engen Schulterschluss mit den USA gesucht. Eine eigene Verteidigungspolitik der Europäischen Union lehnt man in Kopenhagen – egal welche Regierung amtiert – mehr oder weniger offen ab. Für Dänemark bleiben die USA und die Nato die primären Sicherheitsgaranten. Das hat die vergangenen Jahrzehnte nachweislich gut funktioniert.

Die Vereinigten Staaten und die Nato haben für die Sicherheit Europas garantiert. Damit sind die Verbrechen und Fehlleistungen des Bündnisses und der USA nicht entschuldigt. Zu verweisen ist auf das Nato-Mitglied Türkei, das sich in einem Dauerkampf gegen die Kurden befindet und die schlimmsten Islamisten im Norden Syriens alimentiert. Nicht vergessen werden darf die Rolle der USA im Krieg gegen den Irak oder die vielen vergangenen Schweinereien, nicht zuletzt in Latein- oder Südamerika.

Aber es bleibt dennoch dabei, dass das Nato-Militärbündnis unter der Führung der USA viele Jahre den Frieden in Europa abgesichert hat. Die sozialdemokratische Regierung in Dänemark scheint weiter an die Zukunftsfähigkeit dieser Nato-USA-Konstellation zu glauben. Ich bin da mittelfristig um einiges skeptischer, ob sich Europa auf die USA als Friedensgarant verlassen kann. Man stelle sich vor, Donald Trump würde in diesen Stunden mit Putin einen „Deal“ über Europa verhandeln. Keine schönen Aussichten, auch nicht für Dänemark.

Am Dienstag dieser Woche sprach Putin im Beisein von Bundeskanzler Scholz von einem Genozid im Donbas, der an den Russen begangen werde. Das ist nicht nur Propaganda, sondern eine kalkulierte Lüge, und wenn man dies weiterdenkt in der Kreml-Logik ein Anlassgrund für einen potenziellen russischen Angriff auf die Ukraine. Dem Gedanken entsprechend kann man die gestrige Entscheidung der Duma einordnen, ein Gesuch an Putin zu richten, um die „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk anzuerkennen.

Wie oft haben wir in den vergangenen Tagen lesen und hören müssen, „es könnte zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine“ kommen. Ich gebe zu, dann werde ich ärgerlich, weil Journalisten gut daran tun, etwas zu recherchieren, bevor sie schreiben: Es herrscht bereits seit 2014 Krieg. 14.000 Ukrainer sind seitdem in diesem Krieg im Osten des Landes gestorben, die Krim wurde annektiert. Dahinter steckt eindeutig Russland.

Wenn die russischen Staatsmedien (ich meine damit die russische „Tagesschau“, kein Nischen-Propagandasender) Gräuelberichte über Konzentrationslager und Massenmorde an Russen in der Ukraine sendet, ist das zwar so hanebüchen, dass man nicht weiß, wie man reagieren soll. Es sind jedoch die Narrative des offiziellen Russlands. Diesem hybriden Krieg der Darstellungen müssen wir uns stellen. Es gibt aktuell nur einen Aggressor, und der sitzt im Kreml.

Und zuletzt, bitte in diesen Tagen den historischen Kontext nicht vergessen. Wenn sich die Polen, die Balten und Ukrainer mehr als besorgt geben und eine klare Haltung inklusive Waffenlieferungen fordern, dann ist das verständlich, mit Blick auf die Geschichte. Nein, Putin ist gewiss nicht Stalin oder Hitler. Aber wir haben es mit einem äußerst aggressiven Russland zu tun, dessen Machtnomenklatura mit dem Rücken zur Wand steht.

Ich habe die Tage das erschlagende Buch „Bloodlands“ von Timothy Snyder gelesen. Es geht genau um die Region, über die wir derzeit reden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts starben in der von Snyder passend „Bloodlands“ getauften Region 14 Millionen Menschen: In Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Belarus und den baltischen Staaten.

Während der Konsolidierung des Nationalsozialismus und Stalinismus von 1933-38, der deutschen und sowjetischen Besatzung Polens 1939-41 und des deutsch-sowjetischen Krieges 1941-45 erlebte diese Region Massengewalt in einem historisch beispiellosen Ausmaß, wie Snyder eindrücklich berichtet. Die Sowjets ließen Millionen Menschen verhungern, deportieren, erschießen. Hier fanden die sowjetischen und deutschen Massenmorde an der polnischen Elite statt; Zwangsumsiedelung und Vertreibungen, das vorsätzliche Aushungern der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung, die Ermordung der Juden aus ganz Europa durch die deutsche Besatzungsmacht. Eine Aufzählung des Grauens.

Dies alles ist keine 100 Jahre her. Die Geschichte spielt in der Region eine überwältigende Rolle, sie ist keineswegs vergangen und schon gar nicht vergessen. Das sollten wir ernst nehmen und den Menschen in der Ukraine, in Polen, den baltischen Staaten und der unterdrückten Bevölkerung in Belarus und auch in Russland mehr Empathie schenken.

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