Minderheiten in Europa

„Müssen davon weg, dass die nationale Identität immer das Maß ist“

„Müssen davon weg, dass die nationale Identität immer das Maß ist“

Zukunft Europas: „Nationale Identität nicht als Maßstab“

Flensburg/Flensborg
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Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut, wies auf das Ungleichgewicht hin, das zwischen Minderheiten mit Mutterland und solchen Minderheiten besteht, die, wie die Friesen, kein Mutterland haben. Foto: Martin Ziemer/FUEN

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Die EU soll Minderheiten schützen – auch und gerade dann, wenn die Nationalstaaten daran kein Interesse haben. Doch die Kommission sträubt sich. Wo kann der Hebel angesetzt werden? In Flensburg wurde am Montag laut gedacht.

Die Regierungen der Nationalstaaten sind in der Europäischen Union (EU) schlicht noch zu mächtig und zu sehr auf die Nation fixiert, als dass die nationalen Minderheiten des Kontinents darauf hoffen könnten, in absehbarer Zeit auf Augenhöhe behandelt zu werden. Das hätte das Fazit einer Tagung zum Thema „Die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas –­ Modelle und Herausforderungen“ am Montag in Flensburg sein können.

Wären da nicht die Initiatoren von der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN), die unbeirrt weiter darauf setzen, dass ein stetig erhöhter Druck irgendwann auch die von den Interessen der nationalen Regierungen dominierte EU-Kommission dazu bewegt, den Schutz von Minderheitenrechten auf EU-Ebene zu verankern.

„Die EU selbst sollte dafür kämpfen“, sagte Loránt Vincze, Präsident der FUEN. Schließlich liege der Minderheitenschutz im Kern europäischer Werte. Wenn die Kommission dies aber nicht tue, dann sei „der Beitrag, den wir leisten können, Konferenzen wie diese zu organisieren und die Menschen davon zu überzeugen, dass dies das Richtige ist und dass diese europäischen Werte nicht nur heute, sondern auch in Zukunft wichtig sein werden“.

Loránt Vincze (links) kämpft seit 2016 als Präsident der FUEN dafür, dass die Rechte nationaler Minderheiten von der EU aktiv geschützt werden. Foto: Martin Ziemer/FUEN

Friesen in Schleswig-Holstein: Längst nicht alles eitel Sonnenschein

Gegen welche Widerstände die nationalen Minderheiten zu kämpfen haben, bis es zu einer „neuen europäischen Wirklichkeit“ kommt, von der Vincze spricht, zeigt nicht nur das Beispiel der vom EU-Parlament breit unterstützten und von der EU-Kommission dann schlichtweg vom Tisch gefegten Bürgerinitiative MSPI.

Schon im minderheitenpolitisch als vorbildlich geltenden Schleswig-Holstein werde deutlich, wie sehr das Wohl und Wehe von Minderheiten von den Interessen der Mehrheitsbevölkerungen abhänge, berichtete beispielhaft Christoph Schmidt.

„Europa ist ein Europa der Vaterländer“, zitierte er den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Und dies sei für die Minderheiten das Kernproblem. Denn „es entscheiden in der EU immer die nationalen Regierungen. Es ist kein Zufall, dass das MSPI abgelehnt wurde“, so der Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredstedt (Bredsted/Bräist). 

Grenzen von Identitäten stehen Minderheitenschutz im Wege

Er veranschaulichte das Problem aus der Sicht der friesischen Volksgruppe. So ist die in den Niederlanden registrierte friesische Partei für Friesen in Deutschland bei Europawahlen nicht wählbar. Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk würden die Belange der Mehrheiten als Maßstab gelten, wenn zum Beispiel im „NDR“ gerade einmal drei Minuten Friesisch pro Woche im Radio laufen und der letzte Fernsehbeitrag auf Friesisch nachts gelaufen sei – und das vor mehr als zehn Jahren.

Es brauche eine „Abkehr davon, dass die nationale Identität das Maß ist“, so Schmidts Resümee. Heute würden, sagte er, Grenzen nicht als Grenzen von Herrschaft, wie dies früher war, sondern als Grenzen von Identitäten gesehen. „Ein Staat, eine Kultur, eine Sprache“, diese Erzählung werde durch Minderheiten infrage gestellt. Und nicht allen passe das.

Dort, wo der Staat selber tätig werden muss, treten wir seit Jahrzehnten auf der Stelle

Christoph Schmidt

Und während sich Minderheiten wie die deutsche Minderheit in Dänemark oder die dänische Minderheit in Südschleswig aufgrund des Interessenausgleichs der Mutterländer darauf verlassen können, beachtet und gefördert zu werden, treffe dies auf Minderheiten, die sich nicht auf die finanzielle und politische Hilfe eines Nationalstaates jenseits der Landesgrenze verlassen können, nicht zu.

Schmidt: Keine Eigeninitiative des Landes, Minderheit zu fördern

„Dort, wo der Staat selber tätig werden muss, treten wir seit Jahrzehnten auf der Stelle“, so Schmidt. Jeder Euro und jede Krone, die sie bekommt, stehe der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein zu, sagte er sinngemäß, doch zum Vergleich rechnete er vor, dass die Däninnen und Dänen in Schleswig-Holstein grob das Hundertfache dessen an Förderung bekommen, was die Friesinnen und Friesen erhalten.

„Es gibt einen Interessenausgleich der Mutterstaaten“, so Schmidt. Dabei gebe es „jenseits der Politik keinen sachlichen Grund“, weshalb es dänischsprachige, aber keine friesischsprachigen Schulen gibt. Und weshalb die Geschichte der Friesinnen und Friesen, anders als die der dänischen Minderheit, nicht im Lehrplan der Schulen in Schleswig-Holstein steht.

Fernand de Varennes
Der UN-Minderheiten-Berichterstatter Fernand de Varennes hält die rechtliche Grundlage für den Minderheitenschutz für unentbehrlich. Foto: Karin Riggelsen

UN-Beauftragter: An rechtlicher Grundlage auf EU-Ebene führt kein Weg vorbei

Dass das dänisch-deutsche Modell also nicht als Schablone für alle Minderheitenregionen Europas funktioniert, zeigt sich schon im Grenzland selbst.

Deshalb reiche der gute Wille, der Grundlage aller Minderheitenpolitik sein sollte, nicht aus. Es brauche rechtliche Grundlagen, unterstrich Fernand de Varennes, UN-Sonderberichterstatter für Minderheitenfragen. Nach einer Rahmenkonvention für Minderheitenrechte gelte es, „den Europäischen Gerichtshof mit ins Boot zu holen“. 

Nur so könnten Minderheiten, über die sonst niemand eine schützende Hand hält, gesichert fortbestehen.

„Die EU ist eine extrem wichtige Institution, und die Minderheiten müssen durch die EU wesentlich proaktiver geschützt werden“, so de Varennes. „Je mehr Schutz und je stärkere Mechanismen wir haben, desto höher ist die Chance, dass die Regierungen sie auch respektieren. Wenn es dadurch eine größere Sichtbarkeit der Minderheiten gibt, führt dies auch zu einer größeren Stabilität“, so sein Fazit.

Acht Vorschläge der Minderheiten brauchen Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern

Um solche Mechanismen in der EU einzuführen, hat die FUEN acht Vorschläge formuliert, die über den Weg der Konferenz zur Zukunft Europas auf den Tisch der EU-Kommission kommen sollen.

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist ein Versuch der Europäischen Kommission, die Europäische Union bürgernäher zu gestalten. Auf zahlreichen Treffen zu zahlreichen Themengebieten an zahlreichen Orten in ganz Europa sollen die Menschen debattieren und Vorschläge formulieren, die dann der EU-Kommission vorgelegt werden.

Acht Vorschläge zum Schutz von nationalen Minderheiten sollen auf den Tisch der EU-Kommission kommen. Dazu müssen Bürgerinnen und Bürger sie unterstützen – zum Beispiel online. Foto: Martin Ziemer/FUEN
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