VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT
„Die Ukraine gehört dazu: Ein Plädoyer für mehr Minderheitenschutz in einer erweiterten EU“
Ein Plädoyer für mehr Minderheitenschutz in einer erweiterten EU
Plädoyer für mehr Minderheitenschutz in einer erweiterten EU
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Gehören die Ukraine, Moldau, Georgien und die Westbalkanstaaten in die Europäische Union? Ganz klar ja, meint Jan Diedrichsen, der in seiner Kolumne erläutert, warum.
Am Donnerstag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Es hätte der krönende Abschlussgipfel von Emmanuel Macron sein sollen. Ein halbes Jahr hatte Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft inne. Doch nach den für ihn verheerenden Parlamentswahlen ist der politische Spielraum für den französischen Präsidenten arg geschrumpft. Doch die Probleme warten nicht. Über allem schwebt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine.
Zum Ratsgipfel soll Kyiv den Kandidatenstatus der EU erhalten. Dies wäre ein Signal, wenngleich am Anfang eher symbolischen Charakters und keineswegs bereits eine Vorentscheidung über eine Mitgliedschaft. Aber das Symbol ist stark und macht in Moskau Eindruck. Eine Anbindung der Ukraine an den Westen ist genau das, was die Waffen Moskaus versuchen zu verhindern.
Ja, die Ukraine gehört in die EU. Die Ukraine verteidigt derzeit unter Waffen den europäischen Gedanken, den „european way of life“. Denn genau auf den hat es Putin abgesehen. Es geht ihm nicht um Geländegewinne in der Ukraine. Er will die Europäische Union spalten und zerstören.
Natürlich gehört auch die Republik Moldau in die EU. Und wenngleich Georgien auf die Warteschleife geschickt wurde, gehört auch Georgien dazu (man schaue sich die Videos von den Bürgerinnen und Bürgern an, die aktuell auf der Straße für die EU und gegen die eigene korrupte Elite demonstrieren).
Eine Erweiterung der EU muss auch die Staaten des Westbalkans umfassen. Warum sollten Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien weiter warten müssen? Die Glaubwürdigkeit der EU und der Frieden stehen in der Region schon lange unter Beschuss. Russland lässt täglich die Muskeln spielen und zündelt mit dem Potenzial einen Flächenbrand zu entflammen.
Ich sehe vor mir, wie einige Leserinnen und Leser die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sich denken mögen: Mein Gott, wie soll das nur gut gehen? Diese Länder sind meilenweit von unseren Standards entfernt, sowohl was Rechtsstaatlichkeit als auch die ökonomische Leistungsfähigkeit anbelangt. Das mag sein, und daran muss gearbeitet werden. Aber die Europäische Union wird sich den neuen Gegebenheiten stellen müssen. Wir sind auf dem Weg von einer Friedensordnung, die uns die letzten 50 Jahre Wohlfühltemperaturen beschert hat, hin zu einer neuen Konfliktordnung, wie es die Wissenschaftlerin Claudia Major vom SWP-Berlin formuliert hat. Die EU muss sich diesen Konflikten stellen und durchsetzungsstark agieren. Die Konflikte sind nicht nur abstrakt global, sondern direkt vor unserer Haustür, und dort werden sie vorerst bleiben.
Es ist verständlich, dass es vielen lieber wäre, wir könnten uns in das private Biedermeier zurückziehen; die Türen zuklappen, denn in Dänemark geht es doch wunderbar, können wir diese unsichere Welt nicht vor der Tür belassen? Das wird nicht möglich sein. Das wäre nicht nur naiv, sondern auch unsolidarisch.
Die Notwendigkeit einer starken EU bedeutet, dass die Spielregeln nachgeschärft werden müssen. Das gilt nicht zuletzt für den Aufnahmeprozess neuer Mitglieder. In diesem Kontext gibt es die berühmten Kopenhagener Kriterien, in denen festgeschrieben steht, was neue Mitgliedstaaten umsetzen müssen, damit sie aufgenommen werden können. Die Minderheiten in Europa werden nicht müde, darauf zu verweisen, dass in diesen Kopenhagener Kriterien der Minderheitenschutz explizit Erwähnung findet. Demnach können weder die Republik Moldau, noch die Ukraine, noch Bosnien-Herzegowina Mitglied werden, wenn es keinen nachhaltigen Minderheitenschutz gibt.
Das klingt im ersten Moment gut, ist jedoch wie so vieles im europäischen Kontext mit einem großen Aber verbunden. Erinnern wir uns an die Aufnahmerunde, als Rumänien und Bulgarien Mitglied wurden. Damals hat sich schon niemand mehr wirklich um die Minderheitenfragen bemüht. Seitdem spielt der Minderheitenschutz in der Europäischen Union keine Rolle.
Das darf in Zukunft nicht sein. Es ist beschämend, wenn der ungarische nationalpopulistische Putin-Freund Orban sich auf das Thema Minderheitenschutz setzt und gegenüber der Ukraine ins Feld führt, man müsste doch bitte an die 250.000 ethnischen Ungarn in der Ukraine denken, die massiver Diskriminierung unterliegen. Orban nutzt die Minderheitenkarte, um auf europäischer Ebene moralisches Kapital anzusammeln, das er auf anderer Seite so gut wie komplett verspielt hat. Da es keine Minderheitenpolitik der EU gibt, haben es Orban und seine Gefolgsleute viel zu leicht, sich als Fürsprecher der Minderheiten zu gerieren. Dies ist übrigens für die Minderheiten selbst keine gute Situation. Auf einen nationalistischen Putin-Unterstützer wie Orbán sollte man verzichten.
Das bedeutet umso mehr, dass sich die Europäische Kommission endlich mit dem Thema Minderheiten und auch mit der Frage von Autonomie und Selbstverwaltung auseinandersetzen muss. Es liegt ein fertiges Paket derzeit beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor, nämlich die Minority Safe Pack Initiative (MSPI). Immer wieder hat die Europäische Kommission dieses Maßnahmenpaket abgelehnt. Man will sich auf europäischer Ebene partout nicht mit den Minderheitenfragen befassen. Das wird in Zukunft mit Blick auf die Aufnahme neuer EU-Mitglieder nicht mehr funktionieren, will man nicht sehenden Auges gegen die Wand laufen. Das gilt für den westlichen Balkan und die Ukraine gleichermaßen sowie dem „frozen conflict“ in Moldawien / Transnistrien, um gar nicht zu reden von dem perfiden Spiel Bulgariens gegen Nordmazedonien. Der Appell kann nur lauten: Liebe Ursula von der Leyen, springen Sie über Ihren Schatten, bevor wieder ein Urteil des EuGHs gegen die Kommission erlassen wird. Setzen sie den Minderheitenschutz auf die EU-Agenda. Ernsthaft.