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„In Syrien wird täglich gefoltert und gemordet: Abschiebungen aus Dänemark sind eine Tragödie“

Abschiebungen aus Dänemark sind eine Tragödie

Abschiebungen aus Dänemark sind eine Tragödie

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Flüchtlinge nach Syrien abzuschieben, ist eine Tragödie, so Jan Diedrichsen. Warum er das Vorgehen moralisch, juristisch und politisch unwürdig findet, erklärt er in seiner Kolumne.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Ein dänischer Minister sah sich kürzlich dem Zorn von EU-Parlamentariern ausgesetzt („Der Nordschleswiger“ berichtete), weil man an der Entscheidung festhält, Flüchtlinge nach Syrien abzuschieben. Der Minister für Einwanderung und Integration, Mattias Tesfaye, verteidigte das dänische Vorgehen. Man habe „die derzeitige Situation in Damaskus analysiert“ und komme zu dem Schluss, „eine Aufenthaltsgenehmigung oder die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung ist nicht zu rechtfertigen“, so der Sozialdemokrat. Eine Entscheidung, die bekanntlich eine Welle dänischer und internationaler Kritik hervorgerufen hat, auch von den Experten, die von der Regierung eingesetzt wurden, um den Sachverhalt vorab zu prüfen.

Persönlich finde ich die Entscheidung, Flüchtlinge nach Syrien abzuschieben, eine Tragödie. In Syrien stehen Mord, Folter, Vergewaltigung auf der Tagesordnung. Die Entscheidung, so vermute ich, findet nach machttaktischer Analyse der Regierung auch die Zustimmung der Mehrheit der Wählerschaft. Dennoch ist das Vorgehen moralisch, juristisch und politisch unwürdig. Um diese Sichtweise zu untermauern, möchte ich von Anwar Raslan berichten.

Anwar Raslan, 57, ehemaliger Oberst eines syrischen Geheimdienstes, wurde in einem viel beachteten Prozess vom Oberlandesgericht in Koblenz kürzlich zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte mehr als 4.000 Menschen gefoltert und mindestens 58 ermordet hat. Er ist als Handlanger des syrischen Diktators Baschar al-Assad verurteilt, der seit 2011, im Zuge des Arabischen Frühlings, einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt – schlimmste Menschenrechtsverletzungen inklusive, verübt durch Mörder wie Anwar Raslan. Nachdem der Verurteilte sich mit dem Regime überworfen hatte, schloss er sich den Flüchtenden aus Syrien an. Er landete in Deutschland, wo er sich mit seiner Familie in einem Berliner Vorort niederließ, bis eines seiner Opfer ihn zufällig wiedererkannte. Er wurde 2019 verhaftet. Sein Prozess begann im April 2020 und fand nun mit der Verurteilung einen Abschluss.

Dutzende von Zeugen wurden vernommen. Tausende von Fotos, die ein syrischer Militärfotograf gesammelt hat, wurden gezeigt. Ein Totengräber hat den Zustand von Hunderten von Leichen beschrieben, die in den Kerkern des Gebäudes, in dem der Verurteilte gearbeitet hat, oft verstümmelt und in Massengräber geworfen wurden. Elektroschocks, das Ausreißen von Fingernägeln, Schläge mit Kabeln und Peitschen, kopfüber aufgehängt, mit kaltem Wasser übergossen und vergewaltigt – die Beschreibungen sind schwer zu ertragen.

Das Urteil kann das Leid nicht lindern, das den Folteropfern, den Ermordeten und deren Familien zugestoßen ist. Doch die Verurteilung eines Assad-Schergen aus der mittleren Führungsebene ist ein wichtiges Signal an alle Folterknechte dieser Welt, die in diesen Minuten foltern, vergewaltigen und morden, dass sie niemals vor Strafverfolgung sicher sein können.

Das Urteil in Koblenz war ein Sieg des Weltrechtsprinzips. Demnach können auf Grundlage des Völkerrechts Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unabhängig von Tatort und Nationalität der beteiligten Personen auch in Deutschland oder anderen demokratischen Ländern verfolgt und angeklagt werden.

Noch vor zwei Jahrzehnten wären solche Verbrechen, wie die in Koblenz verhandelten, weder untersucht noch sanktioniert worden.

Für den Diktator Assad kann es nur einen Ort geben: den Internationalen Strafgerichtshof (IGH). Dieser nahm 2002 in Den Haag seine Arbeit auf und ist der einzige ständige Gerichtshof, vor dem sich Schwerverbrecher, einschließlich Regierungschefs und Staaten, wegen schwerer Verbrechen verantworten müssen. Dazu zählen Folter, Angriffsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord. Zwei Drittel aller Länder der Welt haben die Charta mittlerweile unterzeichnet.

Im September 2020 erklärten die Niederlande, sie würden Syrien wegen grober Verstöße gegen das UN-Übereinkommen gegen Folter ebenfalls vor dem IGH zur Verantwortung ziehen. Dänemark schickte derweil Flüchtlinge in die „Obhut“ von Assad ins „beruhigte“ Damaskus, in ein Land mit vielen Anwar Raslans zurück, die weiter jeden Tag ihre Verbrechen begehen.

Quellen:

Das Al-Khatib-Verfahren in Koblenz. Eine Dokumentation der ECCHR.

No time to give upLaws to catch human-rights abusers are growing teeth. The Economist

Sachstand. Einzelaspekte des Weltrechtsprinzips im Strafrecht, Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2020

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