EU-Kommissarin im Interview

Vestager: „Traut euch, Frau zu sein“

Vestager: „Traut euch, Frau zu sein“

Vestager: „Traut euch, Frau zu sein“

Burkhard Ewert/Thomas Ludwig/shz
Dortmund
Zuletzt aktualisiert um:
Margrethe Vestager
„Nicht verunsichern lassen“, rät EU-Kommissarin Margrethe Vestager jungen Mädchen. Foto: Cornelius von Tiedemann

EU-Kommissarin Vestager spricht im Interview mit Burkhard Ewert und Thomas Ludwig über Karriere im Kleid, Rollenklischees und die digitale Offensive.

Ihr Markenzeichen sind  geblümte Kleider, auch an diesem Tag, beim Gespräch am Rande des Digitalgipfels in Dortmund. Verstellen ist nicht Margrethe Vestagers Ding. Hosenanzüge, sagt die EU-Wettbewerbskommissarin und designierte Vizechefin der Brüsseler Behörde, habe sie auf ihrem Karriereweg  nie  getragen. Mädchen und junge Frauen ruft die 51-jährige Dänin im Interview mit Burkhard Ewert und Thomas Ludwig zu mehr Selbstbewusstsein auf.  

Der scheidende Kommissionschef Jean-Claude Juncker hatte sein Team seinerzeit als „Kommission der letzten Chance“ bezeichnet. Welchen Arbeitstitel würden Sie dem Team unter Ursula von der Leyen geben?

„Kommission des Neuanfangs“ – allein schon wegen der Tatsache, dass wir Gesellschaft und Wirtschaft, dass wir ganz Europa in einen klimaneutralen Kontinent umwandeln müssen. Zudem müssen wir endlich das Beste aus den digitalen Technologien herausholen und den digitalen Markt vollenden. Wir brauchen nachhaltig stabile Finanzen. Es gibt also eine Reihe neuer Prioritäten. Sicher wird das auch neue Wege der Zusammenarbeit in der Gemeinschaft bedeuten. Nicht, dass wir dafür Verträge verändern müssten, aber es wird schon darum gehen, die Arbeit zwischen Kommission, Parlament und den Regierungen der Mitgliedstaaten besser zu koordinieren.

Erstmals wird eine Frau an der Spitze der Kommission stehen. Was ändert sich?

Ursula von der Leyen unterscheidet sich sehr von Jean-Claude Juncker, so viel ist sicher. Was das konkret  bedeuten wird, lässt sich   schwer sagen: Wie der Pudding schmeckt, weiß man erst, wenn man ihn isst. Offensichtlich ist, dass die Kommission  nahezu ausgewogen ist zwischen Männern und Frauen. Allein das signalisiert den Menschen: Dies ist eine Kommission für alle. Das ist außerordentlich wichtig.

Inwiefern?

Es zeigt nicht nur Kindern und Heranwachsenden, sondern auch allen Erwachsenen: Keine Position ist nur noch Männern vorbehalten, auch nicht jene, die mit viel Macht verbunden sind. Diese Zeiten sind endgültig vorbei.

Sie haben drei Töchter, was raten Sie ihnen und anderen Mädchen und jungen Frauen, um in einflussreiche Positionen wie die Ursula von der Leyens oder Ihre eigene zu gelangen? 

Niemals würde ich jemandem raten, in diese oder jene spezielle Position gelangen zu wollen. Wohin die Reise geht, entscheidet sich auf dem Weg. Allem voran sollte jeder für sich herausfinden, was ihn wirklich interessiert, wofür sein Herz schlägt, worauf man seine Energie konzentrieren will. Wenn du nur einer fixen Idee folgst, die dir vielleicht auch noch eingeredet wurde, ist das so, als trägst du Scheuklappen: Du siehst nicht, was abseits des Wegs liegt. Oft verbergen sich gerade dort aber die Dinge, die gut für dich sind. Das wird Mädchen oft zu wenig klargemacht. Für sie sind Wege zu oft vorgezeichnet. Das ist  schade. Wenn Du in 30 Jahren etwas tun willst, das Sinn ergibt, musst Du heute Dinge tun, die für Dich Sinn ergeben. Nur dann wirst du dafür Leidenschaft entwickeln und aus Fehlern lernen.

Also kein spezieller Rat?

Mädchen und junge Frauen sollten sich von Stereotypen nicht verunsichern lassen und ihr Ding machen. Sie sollten sich zum Beispiel auch dort bewerben, wo es etwas aussichtslos scheint. Mach es! Mehr als eine Absage kannst du dir nicht einhandeln. Das verunsichert vielleicht, aber man kommt drüber hinweg! Allerdings sollten sich Frauen dabei nicht in männliche Rollenbilder fügen oder versuchen, Männer zu imitieren. Das ist zu anstrengend. Außerdem geht für alle Seiten viel verloren, für die Frau selbst und auch für das Team, in dem sie arbeitet. Je vielfältiger Gruppen sind, umso mehr verändert und verbessert sich das Miteinander. Ich sage Mädchen und jungen Frauen: Traut euch, Frau zu sein! Das ist eine Stärke, zeigt sie! Das ist  einer der Gründe, warum ich nie Hosenanzüge getragen habe, sondern sehr häufig Kleider wähle. Es ist großartig, eine Frau zu sein, auch in einem hohen Amt. Das muss man nicht verbergen.
 
In der neuen Kommission sind Sie nicht mehr nur für Wettbewerbskontrolle zuständig, als Vizechefin sollen Sie auch die Digitalisierung Europas vorantreiben. Was sind Ihre  Prioritäten?

Innerhalb der ersten hundert Tage meiner Amtszeit werde ich Vorschläge machen, deren Ziel es ist, künstliche Intelligenz für uns Menschen dienstbar zu machen. Da ist bisher ja kaum etwas reguliert. Daneben gilt es herauszufinden, was es tatsächlich heißt, fit für das digitale Zeitalter zu sein. Während unsere Klimaziele klar umrissen und mit konkreten Jahreszahlen verknüpft sind, liegen die Dinge im Digitalen etwas anders. Wir brauchen ein Zwei-Grad-Ziel für die Digitalisierung, also etwas, worauf wir unsere ganze Kraft richten und zu dem wir uns als Staatengemeinschaft verbindlich verpflichten.  

Was schwebt Ihnen vor?

Europa hat erheblichen Nachholbedarf bei der Digitalisierung in den öffentlichen Diensten für die Bürger. Wir haben Nachholbedarf bei der Infrastruktur; es kann nicht sein, dass es nach wie vor Gegenden ohne schnelles Internet und Handyempfang gibt. Für den Ausbau der Infrastruktur brauchen wir die nötige Finanzierung. Auch bei der Softwareentwicklung kann Europa sicher noch mehr. Ich denke an eine Cloud oder  eine Suchmaschine. Wir haben in der EU acht Zentren für Computerarbeit. Ich möchte, dass sie enger zusammenarbeiten. Dann verfügen wir über beträchtliche Kräfte auf diesem Gebiet. 
 
Stellt der neue EU-Finanzrahmen für 2021 bis 2027 genügend Geld zur Verfügung, um die Digitalisierung voranzutreiben?

Der Finanzrahmen allein kann es nicht richten. Wir können mit seiner Hilfe aber Instrumente zur Verfügung stellen, die private Investitionen ankurbeln. Und sicher können wir auch den Rahmen für Forschung und Innovation noch verbessern.

Müsste damit eine stärkere Umschichtung von Geldern beispielsweise aus dem Landwirtschaftssektor hin zur Digitalisierung verbunden sein?

Es hat bereits Umschichtungen gegeben, der Vorschlag für den neuen Haushalt erscheint mir ausgewogen. Niemand kann die Agrarlandschaft in Europa von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellen wollen. Wir müssen stets im Auge behalten, dass dieser für uns alle so lebenswichtige Sektor ausreichend finanziert ist. Dazu gehört auch, dass die Landwirtschaft digitaler werden muss. Vor allem kleinere Agrarbetrieb haben Nachholbedarf. Es wird also auch darum gehen, ihnen beim Übergang ins digitale Zeitalter stärker unter die Arme zu greifen als bisher. Grundsätzlich aber braucht Europa eine starke Landwirtschaft und wird die Bauern nicht alleinlassen. 
 
Ist die Zerschlagung des allmächtigen Google, wie sie bereits einmal diskutiert worden ist, endgültig vom Tisch?

Wir können Unternehmen zwingen, sich von Firmenteilen zu trennen, das gehört zu unseren Werkzeugen im Kampf um gerechte Wettbewerbsbedingungen für alle. Es verbietet sich aber ein leichtfertiger Umgang damit, weil wir so natürlich tief in unternehmerische Freiheiten eingreifen. Wenn sich aber wettbewerbsrechtliche Probleme ergeben, die sich anderes nicht lösen lassen, sind wir natürlich auch zu solchen weitreichenden Schritten wie der Aufteilung von Unternehmen bereit. Das gilt auch dann, falls es bei Google so sein sollte. Insofern ist diese Möglichkeit nicht vom Tisch. Im Übrigen gilt: Wenn Unternehmen auf der Seite von Recht und Gesetz stehen, haben sie in mir die beste Freundin, egal, wo sie ihren Sitz haben.
 
Wenn Sie die Digitalisierung politisch vorantreiben sollen, müssen dann Giganten wie Apple, Google oder Facebook nicht fürchten, dass Sie als Wettbewerbskommissarin strenger gegen sie vorgehen, um europäischen Firmen im Rennen um die Digitalisierung zu stützen?

Die Unabhängigkeit in der Wettbewerbskontrolle darf weder zur Debatte stehen noch von politischen Interessen überlagert werden, das ist absolut richtig. Hier gelten aber genau deshalb ganz klare rechtliche Grundlagen. Meine Macht ist nicht unbegrenzt. Wir haben zahlreiche interne Kontrollmechanismen, wir haben den juristischen Dienst, der alles auf Rechtmäßigkeit prüft, es gibt Ombudsleute und schließlich den Europäischen Gerichtshof, der Entscheidungen überprüfen kann. 
 
Wird die neue Kommission noch in diesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen?

Ursprünglich sollte die Kommission zum 1. November starten, das ist leider nicht gelungen, weil das Parlament einzelne Kommissare nicht akzeptiert hat. Sollten die Nachrücker bestätigt werden, kann die neue Kommission am 1. Dezember ihre Arbeit aufnehmen. Ich gehe davon aus, dass der Termin gehalten werden kann. Übergangsperioden sind ja immer etwas schwierig, deshalb sollte der Übergang von alter zu neuer Kommission nicht mehr allzu lange dauern.

Sind Sie sicher, dass trotz Ihres neuen Mandats nicht noch einmal der Ruf nach einem politischen Amt aus Ihrer Heimat kommt?

Ich habe sehr darauf geachtet, nicht alle Türen hinter mir zuzuschlagen, als ich die dänische Politik verlassen habe, also: Wer weiß? Aber gegenwärtig freue ich mich sehr darauf, meinen Teil in der Kommission beizutragen, wo viele Aufgaben auf uns warten, denen wir uns stellen müssen. 

Mehr lesen

Leserbrief

Meinung
Allan Søgaard-Andersen
„Tomme borgerlige klimaløfter!“

Leitartikel

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
„Europäischer Erdrutsch“

wort zum Sonntag

Hauptpastorin Dr. Rajah Scheepers der Sankt Petri Kirche, Die deutschsprachige Gemeinde in der Dänischen Volkskirche
Rajah Scheepers
„Staatsbürgerschaften“