Leitartikel

Echt hyggelig

Echt hyggelig

Echt hyggelig

Apenrade/Aabenraa
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Victor Hugo
Victor Hugo Foto: gemeinfrei

Alles redet über die dänische Hygge. Doch kann es sein, dass viele sie ganz falsch verstehen? Und hat ein großer Franzose vor 150 Jahren schon gewusst, worauf es bei der Hygge wirklich ankommt? Cornelius von Tiedemann sucht Antworten.

Alles redet über die dänische Hygge. Doch kann es sein, dass viele sie ganz falsch verstehen? Und hat ein großer Franzose vor 150 Jahren schon gewusst, worauf es bei der Hygge wirklich ankommt? Cornelius von Tiedemann sucht Antworten.

Die Welt übt sich in Hygge. Als wäre sie eine Art Zauberformel des Wohlbefindens werden in allen möglichen Sprachen dicke Bücher mit vielen Fotos von Menschen mit Heißgetränken auf Sofas verkauft wie warme Semmeln. Die Dänen sind glücklich durch Hygge, so der Tenor. Doch worin unterscheidet sich die dänische Hygge von deutscher Gemütlichkeit, britischer cosiness oder etwas, das die Schweden mysigt finden?

Der Hygge-Trend wird von der Einrichtungsindustrie forciert. In Hygge-Magazinen lassen sich passende Anzeigen wunderbar platzieren. Somit wird die Hygge weltweit auch mit dem Rückzug ins Private verbunden. Studien zeigen tatsächlich: Es wird wieder mehr Zeit zuhause verbracht und mehr Geld in Möbel und andere Hygge-Utensilien investiert. Warum? Vielleicht, weil es draußen so unhyggelig geworden ist.

Ständig sehen wir uns Bedrohungen gegenüber. Machtbesessene Präsidenten, Flüchtlingswellen, Terror, Klimakatastrophen, die EU in der Krise, Brexit – und das alles nach der gerade halbwegs überstandenen Finanzkrise. Oder sind das doch alles nur Fake News? Der trotzige Rückzug in die  überschaubare Welt der Kuschelecke auf dem Sofa, er verspricht da Erlösung. Doch diese, nicht in Dänemark, sondern in britischen und deutschen Fotoredaktionen geborene, Definition der Hygge, sie ist nicht mehr als die Lüge von einer Wunderkur gegen die ach so bedrohlichen Viren der noch ächer so kranken Welt da draußen.

Neulich, bei der Hygge auf dem Sofa, stieß ich in einem Buche auf folgende Sätze: „Wir wollen uns weder vor Dieben fürchten noch vor Mördern. Das sind die Gefahren von außen, die kleinen Gefahren. Fürchten wir uns vor uns selbst. Die Vorurteile sind die Diebe, die Laster, die Mörder.“

Das hat Victor Hugo geschrieben, vor etwa 155 Jahren. Wie passt Hugo zur Hygge?

So: Das freundliche, gewinnende hyggelige Wesen, das wir den Dänen zuschreiben, es ist kein trotziges Wesen. Die wahre Hygge, sie ist kein Rückzug. Sie ist Ausdruck dessen, sich seines Wohlbefindens sicher zu sein. Sie ist Ausdruck des Vertrauens. Eine hyggelige Person, sie ist nicht von Angst gesteuert, sondern von Zuversicht, sie befindet sich nicht auf dem Rückzug, sie steht, sitzt oder liegt sicher.

Nach dieser Definition kann die dänische Politik in jüngster Zeit nur als unhyggelig bezeichnet werden. Als Einwanderer obliegt es mir nicht, sie gar als undänisch zu bezeichnen, zumal sie offenbar von der Mehrheit getragen wird. Der Bewunderung über die echte dänische Hygge, zu der auch eine wunderbar vertrauliche, im wahrsten Sinne freundliche Art des Umgangs gehört, mischt sich durch das Gebärden der Politik und deren Widerhall in der Bevölkerung jedoch eine Sorge darüber bei, dass sich die dänische Seele mehr und mehr zu verschließen scheint, weil den „kleinen Gefahren“ zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es wird, so wie es vielleicht die deutsche Gemütlichkeit seit jeher vorsieht, gegen diese Gefahren geradezu angehyggt.

Gemeinsame Ängste schweißen zusammen. Doch, schreibt Hugo weiter: „Die großen Gefahren sind in unserem Inneren. Was kommt es darauf an, was unseren Kopf oder unsere Börse bedroht. Denken wir nur an das, was unsere Seele bedroht.“

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