Leitartikel

Vertrauenssache

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Apenrade
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Foto: Scanpix

Kim Wall war als Reporterin in Hongkong, China, Indien, Australien, Sri Lanka und den USA unterwegs und Abenteuerlust als solche darf ihr sicher zugeschrieben werden – aber den Gedanken zu spinnen, dass sie bewusst oder unbewusst einen Nervenkitzel suchte, als sie an Bord der Nautilus ging, geht zu weit, meint Sara Wasmund.

Der dänische Autor Jens Christian Grøndahl hat im Femina-Magazin mit Blick auf die getötete Journalistin Kim Wall kürzlich eine irritierende Aussage gemacht. Es sei zwar „niemals die Verantwortung einer Frau“, wenn ein Mann sich entscheidet, sich an ihr zu vergreifen. Aber – und für dieses sein Aber hat Grøndahl mittlerweile öffentlich Buße tun müssen –  wenn er sich den Blick anschaue, den Wall beim Fotografieren in die Kamera sende, sehe er „ein Mädchen, das Gefahr sucht“. Es sei, so Grøndahl, „vollkommen wahnsinnig, mit einem Mann an Bord eines U-Boots zu gehen, den man nicht kennt“.

Das Interview ist drei Wochen alt, hat aber erst in dieser Woche hohe Wellen geschlagen, nachdem nun die Anklageschrift zum Tode Kim Walls vorliegt. Demnach hat U-Bootbesitzer Peter Madsen den Mord geplant und Kim Wall, die für eine Reportage an Bord gegangen war, vor ihrer Ermordung gequält und missbraucht.
Kim Wall war als Reporterin in Hongkong, China, Indien, Australien, Sri Lanka und den USA unterwegs, und Abenteuerlust als solche darf ihr sicher zugeschrieben werden – aber den Gedanken zu spinnen, dass sie bewusst oder unbewusst einen Nervenkitzel suchte, als sie an Bord der Nautilus ging, geht zu weit.

 Der Gedanke kratzt an einem Grundstein unserer Gesellschaft: dem gegenseitigen Vertrauen. In einer Gesellschaft, in der ich als Journalistin aus Angst um mein Wohl Einzelinterviews mit Männern besser meide, wäre mein Leben ein anderes. Überall auf der Welt, auch im hyggeligen Dänemark, gibt es gestörte Menschen. Aber wenn ich das Abweichen von der Regel als Vorsichtsmaßnahme zur Norm meines Handels mache, setze ich  Miss- vor Vertrauen.

Auch die #Me-too-Bewegung setzt Vertrauen in die Berichterstattung voraus. Im Zuge der Initiative, in der zumeist Frauen öffentlich von Übergriffen berichten, kann der Eindruck entstehen, in nahezu jedem Filmstudio, auf jeder Party und in jedem Büro lauern lüsterne Männer, die nur auf eine Gelegenheit warten, belästigen zu können. Ist das so? Die vielen Erlebnisse sprechen anscheinend für sich. Aber stimmen sie? Auch in dieser Diskussion wird mit Vertrauen gearbeitet. Oder gespielt? Tausende  Frauen haben ihre Erlebnisse geschildert, Männer beim Namen genannt und öffentlich bloßgestellt. Zu Recht? Oder aus Rache, weil man nach einer Affäre fallen gelassen wurde? Aus Erleichterung, endlich etwas sagen zu können?  

Es ist nicht von ungefähr, dass in unserer Gesellschaft das Fällen eines Urteils an einem Gericht erfolgt. Vorwürfe werden geprüft, bevor sie als wahr oder unwahr benannt und entsprechend geahndet werden. In den sozialen Medien erfolgt solch eine Prüfung nicht. Wort steht gegen Wort. Wem schenke ich mein Vertrauen? Wem glaube ich?

Auch Kim Walls Fall wird von einem Gericht geprüft, bevor  ein Urteil fällt, auch wenn viele Boulevard-Medien sich bereits ein eigenes Urteil erlauben und Madsen als blutrünstiges Psycho-Monster abstempeln. Der Fall geht laut Anklage weit über eine Belästigung hinaus.

Hätte Wall niemals an Bord gehen sollen? Ihr Vertrauen in die Mitmenschen war groß genug, um es zu tun. Möglich, dass der Fall auch deshalb so an die Nieren geht, weil er das Vertrauen ins normale Leben  erschüttert. Und das ist anstrengend. Immer wieder neu abwägen, abschätzen. Wo mündet gesundes Vertrauen in Naivität? Wo Furcht- in Gedankenlosigkeit?   So bleibt es beim Abwägen, beim Zusammenspiel von gesundem Menschenverstand und Instinkt. Es bedarf  Kraft und Urteilsvermögen, „einfach so“ weiterzumachen. Was wäre die Alternative? Ein durch Misstrauen vergiftetes Miteinander.

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Cornelius von Tiedemann
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